Seit in Deutschland durch den Ukraine-Krieg eine große Energieknappheit droht, steht in Ökonomenkreisen die These vom „Ende des deutschen Geschäftsmodells“ im Raum. Das Wirtschaftsmagazin „Capital“ titelte jüngst: „Inflation, Energieversorgung, Arbeitsplätze: Das deutsche Wirtschaftsmodell muss sich neu erfinden“. Und der frühere Vorsitzende der „Fünf Weisen“ und heutige Chefökonom des „Handelsblatts“ Bert Rürup sieht die Welt in zwei Blöcke zerfallen: einen US-zentrierten Westen und einen China-zentrierten Osten, mit der deutschen Wirtschaft als dem großen Verlierer in der Mitte.
Das Wirtschaftsmodell Deutschland stehe „auf dem Spiel“, resümierte die „Süddeutsche Zeitung“. Dieses Modell basiere auf fragilem Fundament: billigen Energie- und Rohstoffimporten aus Russland und dem Rest der Welt auf der einen Seite und lukrativen Exporten nach China und in den Rest der Welt auf der anderen Seite. Das ist nicht ganz verkehrt. Tunlichst vermieden wird allerdings die Klärung der Frage, welches Geschäftsmodell Deutschland denn stattdessen anstreben solle.
Richtig ist, dass der drohende Ausfall russischer Energielieferungen, anhaltende Lieferverknappungen bei betriebsnotwendigen Rohstoffen und Speicherchips auf dem Weltmarkt, gepaart mit den jüngsten Lockdown-bedingten Produktions- und Logistikstörungen bei Zulieferteilen und Gütern aus China sowie die anziehende Inflation die – latent schon immer vorhandene – Fragilität des deutschen Wirtschaftsmodells zutage gefördert haben.
Drohen also Niedergang der Volkswirtschaft und Wohlstandsverluste für die Masse der Bevölkerung? Braucht Deutschland einen neuen Wohlstandsgenerator? Vor einer sachgerechten Antwort ist zuerst einmal zu klären, worin und woraus das deutsche Geschäftsmodell überhaupt besteht.
Sektorverschiebung?
Nach der klassischen Wirtschaftstheorie werden Volkswirtschaften schematisch nach drei Sektoren – primärer, sekundärer und tertiärer Sektor – klassifiziert. Dabei liefert der primäre Sektor Roh- und Grundstoffe, der sekundäre Sektor ist für die industrielle Herstellung und Verarbeitung dieser Vor- und Grundmaterialien zu Investitions- und Konsumgütern zuständig, der tertiäre Sektor schließlich steht für Wissenschaft, Handel und Dienstleistungen, teils autonom, teils als Vorleistung für die beiden vorgelagerten Sektoren. Zwischen diesen Sektoren, genauer: zwischen den in ihnen tätigen Unternehmen besteht in der Regel ein gut funktionierender, störungsfreier Austausch gegenseitiger Leistungen. Man spricht von der Wertschöpfungskette beziehungsweise von Produktionskaskaden.
Überträgt man dieses Sektorenmodell auf die Weltwirtschaft, lassen sich dort im Prinzip drei Kategorien von Ländervolkswirtschaften identifizieren: im Primärbereich die Energie- und Rohstoffländer, im Sekundärbereich alle Industriestaaten vom Schwellen- bis zum Hightechland und im tertiären Bereich die (wenigen) Dienstleistungsländer, die sich, meist notgedrungen, auf Wissenschaft, Forschung, Innovationen und technischen Fortschritt in der Medizin und den Hightech-Militärbereich konzentriert haben (wie Israel), aber ebenso für Logistik und Dienstleistungen im Finanzbereich stehen (wie Panama).
Wo in dieser Klassifikation ist nun das deutsche Geschäftsmodell zu verorten? Und worin liegt eine Bedrohung? Die Antwort darauf hat im Kern schon Kurt Tucholsky in den 1920ern gegeben: „Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten!“ Mit allen Chancen und Risiken, wie wir heute wissen.
Tucholsky hatte recht. Nach dem Krieg erfuhr die internationale Verflechtung der Regionen und Volkswirtschaften einen ungeheuren Schub. In Europa erst durch die Montanunion, dann die EWG der Sechs, schließlich durch die EU der 27 Mitgliedsstaaten mit der Eurozone im Zentrum. Und international erst durch die drei in Bretton Woods vereinbarten Institutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Internationale Handelsorganisation), dann das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) und 1995 schließlich durch die WTO mit inzwischen 167 Mitgliedsländern sowie die G-20-Gruppe, die die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer vereint.
Handel wächst stärker als Wirtschaft
Als Folge dieses Integrationsprozesses ist seit den 1950ern das Welthandelsvolumen schon immer stärker real gewachsen als die Weltwirtschaft selbst, hat demzufolge die Import-Export-Verflechtung zwischen den beteiligten Volkswirtschaften kontinuierlich zugenommen. Und genau an dieser Stelle kommt die deutsche Wirtschaft ins Spiel. Sie war immer mittendrin in diesem weltwirtschaftlichen Wachstums- und Integrationsprozess, auch wenn sich die treibenden Kräfte im Zeitablauf regional ablösten: Nach den USA kam die EWG, nach der EU kam Japan, danach Südkorea und am vorläufigen Ende bis heute Asien mit dem Zentrum China.
Die Weltwirtschaft als Ganzes wie auf einzelstaatlicher Ebene basiert im Kern auf funktionierender Arbeitsteilung zwischen Volkswirtschaften und Sektoren, ungestörten Produktions- und Logistikprozessen und ungehindertem und unlimitiertem Warenaustausch, frei von politischen Restriktionen und Eingriffen in das freie Spiel von Angebot und Nachfrage – so wie Altmeister David Ricardo das in seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile mit dem berühmten Tauschbeispiel zwischen Portugal und England (Portwein gegen Tuch) schon vor mehr als 200 Jahren beschrieben hat.
Die Arbeitsteilung auf internationaler Ebene setzt also zum einen ungestörten, von politischen Eingriffen freien Handel zwischen den Volkswirtschaften und zum anderen rationales, kalkulierbares Handeln der Akteure untereinander voraus. Wird eine dieser Regeln verletzt, fängt je nach Schwere des Regelverstoßes das gesamte System des freien Welthandels an, „rumpelig“ (Robert Habeck) zu werden. Werden beide Bedingungen gleichzeitig verletzt, droht der Zusammenbruch.
Der stand offensichtlich auf fragilem Fundament, wie sich jetzt herausstellt. Denn das deutsche Geschäftsmodell funktionierte von den 1950er- bis Mitte der 2010er-Jahre, weil die Handelspartner die Spielregeln des Welthandels beachteten. Dazu zählte umgekehrt auch, dass zwar Menschenrechtsverletzungen moniert wurden, aber der Handel ohne moralischen Überbau betrieben wurde. Blauäugig tröstete man sich mit der Hoffnung, mit steigendem Wohlstand nach westlichem Vorbild würden sich auch westliche Werte verbreiten. Die Möglichkeit, dass die totalitären Staaten westlichen Wohlstand auch ohne demokratische Freiheiten erlangen könnten, war nicht vorgesehen.
Niedergang des freien Welthandels
Erst die unterschwellig merkantilistischen Verhaltensweisen Chinas, vor allem dann aber die offene Einführung von Handelsrestriktionen und Strafzöllen unter US-Präsident Donald Trump setzten das System der effizienten Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft unter Druck. Das deutsche Erfolgsmodell bekam erste Risse. Die Störungen der globalen Arbeitsteilung im Zuge der Corona-Lockdowns mit erheblichen Produktions- und Logistikstörungen haben dann das deutsche Erfolgsmodell erstmals deutlich beschädigt.
Nur ein Beispiel für das Zusammenwirken der beiden Faktoren: Die deutsche Autoproduktion schrumpfte im Inland innerhalb von nur fünf Jahren von 5,7 Millionen in 2017 um rund die Hälfte auf aktuell 2,9 Millionen Einheiten. Letztmals wurde 1975 ein solch niedriges Produktionsvolumen verzeichnet. Sollte es durch den Ukraine-Krieg zu nachhaltigen Versorgungsengpässen bei Treibstoff kommen, würde das jetzige deutsche Geschäftsmodell vollends zum Einsturz gebracht. Wladimir Putin könnte sich so – ungewollt – noch als „Gamechanger“ der internationalen Arbeitsteilung erweisen.
Die Dimension der Gefährdung des deutschen Geschäftsmodells ist größer als bei jeder anderen Volkswirtschaft. Die Kerze brennt nämlich an beiden Enden. Gleichzeitig bestehen auf der Importseite wie auf der Exportseite extreme Abhängigkeiten. Auf der Importseite ist es die Abhängigkeit von Rohstoff- und Energieeinfuhren, auf der Exportseite hängt alles an der Fortführung der bestehenden Welthandelsordnung.
Als wesentliche Schwachstelle erweist sich die doppelte Abhängigkeit: zum einen das grundsätzliche Angewiesensein auf Energieimporte, zum andern die Abhängigkeit in der Abhängigkeit, nämlich das übergroße Gewicht einzelner Lieferanten – im aktuellen Fall Russland. Die fehlende Diversifikation der Energieimporte erweist sich gerade als Achillesferse.
Risiko Offenheitsgrad
Keine andere der großen Volkswirtschaften weist heute einen ähnlich hohen Offenheitsgrad auf wie die deutsche. Ex- und Importe summierten sich auf über 80 Prozent in Relation zur wirtschaftlichen Gesamtleistung. Zum Vergleich: In Japan und China liegen diese Quoten bei gut einem Drittel und in den USA sogar nur bei etwas mehr als einem Viertel.
Freilich erweist sich der hohe Offenheitsgrad nun als Nachteil. Bereits während der Corona-Pandemie fielen Lieferungen von essenziellen Vorprodukten aus Fernost (Speicherchips) aus, standen Fabriken in Deutschland deshalb vorübergehend still. Das war aber nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen kann. Würden über Nacht Gas, Kohle und Öl aus Russland ausbleiben, drohte der gesamten Industrie eine veritable Rezession – und der in puncto Versorgungskrisen ungeübten Nachkriegsgeneration großes Ungemach und völlig neue Erfahrungen.
Auch auf der Exportseite kann schnell etwas anbrennen, wenn die Handelspartner nicht mehr mitspielen. Bis zu 50 Prozent der inländischen Wertschöpfung wird mit dem Auslandsgeschäft verdient, in der Autoindustrie sind es gar 70 Prozent.
China ist andererseits selbst wichtiger Rohstoff- und Vorleistungsexporteur – zum Teil in Monopolstellung. Die Kontrolle der Rohstoffe ist für China ein zentrales Instrument, um die globale technologische Vorherrschaft zu erreichen. Welch scharfes Schwert China mit solchen Monopolen besitzt, zeigte sich 2020, als Peking wegen eines Territorialstreits vorübergehend keine seltenen Erden mehr an Japan lieferte und die drittgrößte Ökonomie der Welt damit ins Schleudern brachte.
Im Hintergrund lauert nun auch noch die Gefahr einer neuen Allianz zwischen China und Russland. Ein international isoliertes rohstoffreiches Russland braucht Abnehmer für seine Rohstoffe und Agrarüberschüsse. Da es China sowohl an Energie als auch an Nahrungsmitteln mangelt, ergänzen sich die beiden Länder ideal. Zudem ist beiden Regimen die westliche freiheitliche Grundordnung ein Gräuel.
Selbst eine lediglich De-facto-Teilung der Welt in zwei Blöcke wie während des Kalten Krieges hätte schwerwiegende Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Für einzelne Schlüsselbranchen mit starkem China-Fokus wie etwa die Autoindustrie, insbesondere Volkswagen, wäre sie verheerend.
Es ist eine Tatsache, dass ein beachtlicher Teil des deutschen Wirtschaftswachstums in der Vergangenheit auf dem rasanten Wachstum in Asien fußte – nicht auf Russland, dort wurden in der Regel nur Verluste gemacht. Geriete der Handel mit dem asiatischen Wirtschaftsraum ins Stocken, würden nicht nur wichtige Auslandsumsätze wegbrechen, sondern auch die deutschen Produktionskosten wegen höherer Rohstoff- und Vorproduktpreise in die Höhe schnellen. Die Versorgungskrise mit Speicherchips hat die Abhängigkeit offen zutage gefördert. Ohne seltene Erden aus China dreht sich kein Windrad, funktioniert kein Handy und kein Auto, von batteriebetriebenen Elektroautos ganz zu schweigen.
Aber nicht nur China geriete als Absatzmarkt in Gefahr, auch der Wachstumsmotor USA, der über Jahrzehnte Haupthandelspartner war, geriete ins Stottern. Denn der Bildung einer neuen bipolaren Welt mit Russland als Industrie- und Agrarrohstoffkolonie im Vorhof von China könnte die Weltmacht USA nicht tatenlos zusehen. Dem steigenden Druck, noch mehr Investitionen und Arbeitsplätze aus China in die USA zu verlagern als bisher, könnten sich dann auch deutsche Unternehmen nicht entziehen. Wer in solch einer Welt seine Produkte auf dem weltgrößten Markt vertreiben will, wird die dortigen Spielregeln akzeptieren und mit der Wertschöpfung auch Investitionskapital in die USA verlagern müssen.
Vom Gewinner zum Verlierer
Für den großen Globalisierungsgewinner Deutschland sind diese Bedrohungen und Gefahren auf der Import- wie auf Exportseite jedes für sich genommen gleichermaßen fatal. Noch fataler ist allerdings die gegenwärtige Zusammenballung der Import- wie der Exportrisiken. Die augenblickliche Koinzidenz von wirtschaftlichen und politischen Störereignissen, verbunden mit massiven inflationären Preissteigerungen, hat es in dieser Kompaktheit und Form in der Nachkriegszeit noch nicht gegeben. Chinas Null-Corona-Politik ist dabei, die westlichen Industrien lahmzulegen, quasi „auszutrocknen“. Was Russland auf der Energie- und Rohstoffseite schaffen kann, vermag China aufseiten industrieller Zulieferteile. Die wichtigste Frage, die deutsche Politiker beantworten müssen, lautet also: Wie kann man diese Risiken begrenzen, wie kann man ihnen begegnen?
Bei Rohstoffen ist Diversifikation der Bezüge aus dem Ausland angesagt. Und im Inland die Reaktivierung jener Chemiker- und Ingenieurtugenden, die zum Beispiel Anfang des vergangenen Jahrhunderts fehlenden Naturkautschuk durch Buna ersetzten. Naturwissenschaften und Ingenieurwesen müssen einen neuen Stellenwert erlangen.
Im Export dürften die Unternehmen von sich aus derzeit noch bestehende extreme Abhängigkeiten von einzelnen Märkten zurückfahren. Auch die Diversifikation der Produktionsstandorte scheint ein probates Mittel zur Risikominderung zu sein. Nicht weniger prooduzieren, aber an anderen Standorten, auch eine Rückverlagerung ins Inland, soweit das der Arbeitsmarkt zulässt, ist denkbar. Auch hier ist die Politik gefragt.
Anpassen und anpacken
Zugegeben, all diese Maßnahmen sind leichter vorgeschlagen als umgesetzt, erfordern bei allen Beteiligten aus Wirtschaft und Politik eine große Kraftanstrengung, kosten Zeit und Geld, was die Renditen sinken lässt, und beschleunigen den Preisauftrieb. Sie sind aber, um ein Wort der früheren Bundeskanzlerin zu strapazieren, „alternativlos“. Denn mit einem Schrumpfen des industriellen Sektors in Deutschland würden auch die benötigten finanziellen Ressourcen für Energiewende, Digitalisierung, Landesverteidigung und nicht zuletzt Sozialpolitik für eine alternde Bevölkerung schrumpfen oder unmöglich gemacht.
Nur auf eines sollte man sich nicht verlassen: Subventionen aus den Staatskassen können auf Dauer keinen Leistungsabfall oder ein Stottern des Motors der deutschen Wirtschaft ausgleichen. Ebenso wenig, wie Zinserhöhungen der EZB die Erdgaspreise senken können, vergrößern Steuersenkungen oder Rentenerhöhungen das Angebot an importierbaren Rohstoffen.
Nicht das Modell als solches, nur die Komponenten müssen angepasst und gegebenenfalls ausgetauscht werden. Die deutsche Gesellschaft hat nach zwei desaströsen Weltkriegen und deren verheerenden wirtschaftlichen Folgen eine gewisse Übung. Anpassen, anpacken, das Beste aus einer schwierigen Situation machen – das sind eigentlich deutsche Tugenden. Wir werden in Zukunft weniger importieren und stattdessen (wieder) mehr selber machen müssen. Die Voraussetzungen dafür sind nur rudimentär gegeben. Im Brennpunkt stehen Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik. Die Aufgabe heißt neudeutsch „Transformation“.