Während Lew Tolstois wohl berühmtestes Werk der russischen Literatur „Krieg und Frieden“ allein wegen des Wortes „Krieg“ Putin nicht in sein Konzept passt und deshalb in Russland totgeschwiegen wird, erlebt es in der Ukraine eine wahre Renaissance. Lew Tolstoi (1828 – 1910) wurde zu diesem Werk durch die vielen imperialen Eroberungskriege des 19. Jahrhunderts angeregt, die Kaukasuskriege und den Krimkrieg, an denen er selbst teilgenommen hatte. Schon damals gehörte die russisch-orthodoxe Kirche als Staatskirche des Zaren zu den ideologischen Vorbereitern dieser Eroberungskriege.
Auch heute ist die nach dem Kommunismus wieder erstandene orthodoxe Kirche zum stärksten Verbündeten Putins in seinem Eroberungskrieg gegen die Ukraine geworden. Wie heute in Russland Menschen verhaftet werden, weil sie die von Putin so bezeichnete „Spezialoperation“ als Krieg bezeichnen, wurde Tolstoi 1901, weil er die „listigen Lügen“ der organisierten Religion gegeißelt hatte, von der orthodoxen Kirche exkommuniziert. Bis heute hat die russisch-orthodoxe Kirche diese Exkommunikation nicht zurückgenommen.
Während der Sowjetzeit, als auch die orthodoxe Kirche verfolgt wurde, war Tolstoi sehr populär. Noch heute ist im Zentrum von Kiew eine U-Bahn-Station nach ihm benannt. In der Ukraine hat man erkannt, dass parallel zu dem russischen Eroberungskrieg auch ein Angriffskrieg gegen die ukrainische Kultur stattfindet, deshalb wehrt sich das Land mit einer Welle von Umbenennungen und Denkmalstürzen aus der Sowjet- und Zarenzeit. Das beliebte Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft in Kiew wurde als erstes bereits im April niedergelegt. Per Online-Abstimmung werden neue Namen für viele Straßen, Plätze oder Metro-Stationen gesucht.
Der Kampf endet, wenn Russland keine imperiale Großmacht mehr sein will
Aber die Umbenennungskampagne verstärkte sich nach 2014 – und wurde nach dem Einmarsch von Putins Truppen in die Ukraine am 24. Februar erneut angefacht. Viele bis dahin russischsprachige Ukrainer gaben ab 2014 auch ihre Muttersprache endgültig auf, als sie feststellten, dass sich die Wege der beiden Nationen trennten. Viele Ukrainer glauben heute, dass dieser Kampf erst enden wird, wenn das einstige Imperium sein Großmachtgebaren ablegt und sich, wie alle anderen einstigen Kolonialmächte, für das entschuldigt, was sie jahrhundertelang anderen Völkern angetan haben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besteht darauf, dass es Moskau war, das die derzeitige Phase der Entrussifizierungsbemühungen angestoßen hat. In den ersten 20 Jahren seiner Unabhängigkeit gab es starke pro-russische Bewegungen in der Ukraine, die gibt es seit Putins Angriff von 2014 nicht mehr. In einer Videoansprache am 27. März sagte Selenskyj: „Ihr tut euer Bestes, damit unser Volk die russische Sprache aufgibt, denn Russisch wird mit euch, mit diesen Explosionen und Morden, mit euren Verbrechen in Verbindung gebracht werden“. Die Benutzung des Vokabulars von Nazi-Deutschland durch den Kreml hat in der Ukraine diesen Prozess beschleunigt. Während sie ukrainische Städte verwüsten und Zivilisten töten, zerstören die Invasoren auch die Wahrzeichen ihrer eigenen russischen und sowjetischen Kultur im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Ukraine zweifelt an der russischen Kultur
Russlands beliebtester Dichter, Alexander Puschkin, besuchte 1820 die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer, nachdem Zar Nikolaus I. ihn wegen Dissidenz verbannt hatte. Eine Bronzestatue des Dichters mit den lockigen Haaren stand neben dem Russischen Schauspielhaus – bis Bombenangriffe im April beides zerstörten und im Schauspielhaus wahrscheinlich tausend Zivilisten, darunter viele Kinder, unter sich begruben. Nachdem eine russische Bombe Boris Romanchenko, einen 96-jährigen Überlebenden von vier Nazilagern, in Charkiw, der größten russischsprachigen Stadt der Ukraine, getötet hat, stellen Beobachter auch Fragen zur russischen Kultur, die solches erlaube. Ähnlich wie viele Menschen nach 1945 Deutschland die Frage stellten, wie das Land Goethes und Schillers so etwas wie Hitler und den Holocaust hervorbringen konnte, stellen die Ukrainer heute die Frage, wie ein Land, das Tolstoi und Puschkin hervorgebracht hat, so etwas wie Putin hervorbringen konnte. Diese Frage stellen sich jedoch auch einige in Russland.
Die Ukraine ist heute stolz auf ihre Vielfalt
Die Ukraine ist die Heimat von Dutzenden ethnischen Gruppen, deren Erbe mit dem Rest Europas verbunden ist. Die Stadt Czernowitz war einst eines der Weltzentren der deutschen und der jiddischen Literatur, hier verfasste Paul Celan die „Todesfuge“, eines der Meisterwerke der deutschen Moderne, der Schriftsteller Bruno Schulz aus Drohobytsch in Galizien gilt als unübertroffener Meister der polnischen Literatur. Die Städte Odessa und Mariupol waren vor 200 Jahren Ausgangspunkt des Unabhängigkeitskampfes der Griechen.
In Odessa, 1794 von einem Franzosen gegründet, bauten deutsche und belgische Jesuiten die erste Schule, die Stadt war im 19. Jahrhundert auch eine der Wiegen des Zionismus. Auf der annektierten Krim geht Moskau seit 2014 hart gegen die Sprache und Kultur der Krimtataren vor, man will sie unter die Oberhoheit der moskautreuen Kasan-Tataren stellen. Eine der Stärken der Ukraine ist ihre Vielfalt. Diese Vielfalt gibt es im Vielvölkerstaat Russland unter Putin nicht mehr. Dort müssen alle Nationalitäten, seien es buddhistische Tuwiner, wie Verteidigungsminister Schoigu, oder protestantische Russlanddeutsche, wie Sberbank-Chef Herrmann Gräf, das Lied Putins singen.
Dieser Beitrag von Bodo Bost erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Tolstoi, Krieg und Frieden. In der preisgekrönten Neuübersetzung von Barbara Conrad. dtv, 2 Bände im Schmuckschuber, 2288 Seiten, 35,00 €.