Tichys Einblick
Mehr als nur Gedankenspiele zur Ukraine

Über Gas und Gegenoffensive zu Verhandlungen? Mehr als nur Gedankenspiele zur Ukraine

Sollte es also im Spätsommer tatsächlich zu Verhandlungen kommen, werden dort die legitimen Interessen der Ukraine auf die imperialistischen Vorstellungen Russlands sowie einen vor Energieangst zitternden Westen und eine hungernde Restwelt stoßen.

Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj bei einem Treffen im Normandie-Format in Paris, 09.12.2019

IMAGO / ITAR-TASS

Will Putin über den Gashahn Zugeständnisse erzwingen? Stehen wir vor einer groß angelegten, ukrainischen Gegenoffensive, die bessere Verhandlungspositionen schaffen soll? Manches spricht dafür, dass Russland die Luft ausgeht – und dass Selenskyj sich darauf einstellen wird, den zerbombten Donbas aufzugeben.

Bluff und Fakten im Kampf um die Ukraine

Manche sehen in Wladimir Putin einen Schachspieler, der jeden Zug bis in die x-te Konsequenz durchdenkt. Andere halten ihn für einen Meister des Pokerspiels – einen begnadeten Bluffer, der seine überlegenen Gegner allein schon durch seinen Auftritt vor sich hertreibt. Noch wieder andere erblicken in ihm nichts anderes als einen typischen Leningrader Bandenboss, der mit Drohung, Hinterlist und brachialer Gewalt jene Stadtviertel verteidigt, deren Ausbeutung ihm sein kriminelles Überleben sichert. Und dann gibt es auch noch jene, die ihn für einen großen Strategen halten , der in der Lage ist, mit der mächtigsten Armee der Welt eine zutiefst schmerzende, erlittene Schmach der Vergangenheit auszumerzen.

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Wie immer man ihn auch sehen mag – die Variante des Schachspielers fällt aus. Denn sein Überfall auf die Ukraine war vom ersten Schuss bis zum Massenbombardement im Donbas ein undurchdachter Fehlschlag. Als Schachspieler hätte er auf ein Matt in wenigen Zügen gesetzt. Stattdessen ist daraus fast ein Remis geworden. Das wäre einem richtigen Schachspieler nie passiert.

Hinsichtlich der anderen Möglichkeiten soll an dieser Stelle die Bewertung offenbleiben. Schauen wir stattdessen auf einige aktuelle Fakten im Verhalten des Mannes im Kreml – und auf das aktuelle Geschehen. Denn beides könnte darauf hindeuten, dass der Konflikt im Spätsommer in eine Pause geht.

Nato-Beitritt von Finnland und Schweden

Folgt man den Begründungen, mit denen Putin seinen Überfall auf die Ukraine vorbereitet hatte, so hat er bereits eine strategische Niederlage von ungeahnter Tragweite erlitten. Denn der Beitritt der beiden skandinavischen Länder Schweden und Finnland zur Nato schafft genau jene Situation, die Putin vor seinem Überfall auf die Ukraine als eine seiner Hauptmotivationen nannte: eine Nato, die unmittelbar an die Grenzen der Russischen Föderation vorrückt. Mit Finnland steht die Nato nun auf einer rund 1.400 Kilometer langen Landlinie direkt vor der Tür – und im Süden und Norden gerade einmal noch rund 150 Kilometer Luftlinie entfernt von Sankt Petersburg. Damit wäre Russlands zweitwichtigste Stadt eines der ersten Ziele, sollte es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Nato kommen.

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Doch Putin gibt sich scheinbar gelassen – was bleibt ihm auch: „Es gibt nichts, was uns mit Blick auf eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der Nato Sorgen machen würde. Wenn sie wollen – bitte. Wir haben mit Schweden und Finnland keine Probleme, wie wir sie mit der Ukraine haben. Es gibt mit den beiden Ländern keine territorialen Differenzen.“

Mit dem ersten Satz lächelt Putin seine strategische Niederlage weg. Warum, wenn der Nato-Beitritt der beiden Skandinavier kein Problem darstellt, war dann aber eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato mehr als nur ein Problem, wie Putin bereits 2008 deutlich gemacht hatte?

Angeblich, so Putin, geht es beim Konflikt mit der Ukraine um „territoriale Differenzen“. Das unterscheide ihn vom Verhältnis zu den skandinavischen Nachbarn. Und es ist insofern zutreffend, als Russland 2014 die Krim und Teile des ukrainischen Ostens in Besitz genommen oder zumindest hat besetzen lassen. Zuvor und auf der Grundlage des Freundschaftsvertrages zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine gab es keine „territorialen Differenzen“. Mit anderen Worten: Russland hat vorsätzlich und vertragswidrig eine Konfliktsituation geschaffen, die es dann zum Anlass nimmt, um eine daraus behauptete „Differenz“ zu eskalieren.

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Putin weiter: „Alles war gut zwischen uns, aber jetzt wird es irgendwelche Spannungen geben – das ist offensichtlich, zweifelsfrei, ohne geht es nicht.“ Wenn der Nato-Beitritt Russland angeblich keine Sorgen macht – warum wird es dann aber „irgendwelche Spannungen geben, ohne die es nicht geht“? Ganz abgesehen davon, dass russische Verletzungen der Hoheitsgebiete der damals noch neutralen Staaten immer wieder zu Spannungen geführt hatten. Die innere Unlogik dessen, was der Kremlchef verkündet, ist nicht zu übersehen.
Bluff und erhebliche Verluste

Dennoch legte Putin wenig später nach. Bei einem Treffen mit den Fraktionschefs seiner Duma erklärte er, den Nimbus des unbesiegbaren, großen Russlands pflegend: „Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen [in der Ukraine] noch nichts Ernsthaftes begonnen haben. Zugleich lehnen wir auch Friedensverhandlungen nicht ab.“

Will sagen: Bislang hat Russland mit den Ukrainern nur gespielt. Tatsache allerdings ist: Das ursprüngliche Ziel, die Ukraine gleichsam im Blitzkrieg zu übernehmen, ist gescheitert. Die russische Armee musste ihre Positionen um Kiew und Charkiw aufgeben, um ihren Kampf im Donbass zu konzentrieren. Dabei vernichtet sie durch Massengranaten- und Raketeneinsatz ihre Bestände und zerstört die Infrastruktur, die Putin für einen Wiederaufbau dringend benötigte.

Stimmen die Zahlen der ukrainischen Militärführung, dann hat Russland bereits 37.400 Soldaten verloren. An Panzern und Panzerkampfwagen sowie Artilleriesystemen und Raketenwerfern sollen fast 6.700 Einheiten zerstört worden sein. 400 Flugzeuge und Hubschrauber soll Russland verloren haben, zudem fast 700 Kampfdrohnen und 15 Schiffe. Das wären Zahlen, die auch die russische Armee nicht über Nacht ersetzen kann.

Tatsache ist auch: Dank der modernen Systeme aus dem Westen ist die Ukraine jetzt in der Lage, die Depots der russischen Armee in den eroberten Gebieten zu zerstören. Russland ist in seiner Logistik auf die Bahn angewiesen – die Offensive im Norden scheiterte daran, dass die Ukraine die wichtigen Bahnstrecken verteidigen konnte. So werden im Süden und im Osten täglich erfolgreiche Attacken auf militärische Lager gemeldet, die unmittelbar an den Bahntrassen eingerichtet sind. Teile der russischen Armee sind mittlerweile darauf konzentriert, die Schäden an der Bahn-Infrastruktur zu beseitigen.

Die Generalmobilmachung umgehen

Um seine Verluste an Soldaten auszugleichen, soll Russland gegenwärtig „Vertragssoldaten“ anwerben – Russen, die gleich Söldnern einen Vertrag unterzeichnen und anschließend in die Armee eingegliedert werden. Westliche Geheimdienste gehen zudem davon aus, dass dazu gezielt Reservisten angesprochen werden, die jedoch mangels besserem mit untauglichem und veraltetem Kampfgerät der Roten Armee ausgestattet werden. Dadurch kann Putin derzeit noch die Generalmobilmachung verhindern, die dem eigenen Volk nicht nur beweisen würde, dass die „Spezialoperation“ ein ausgewachsener Angriffskrieg ist, sondern auch, dass dieser offenbar nicht so erfolgreich verläuft wie gewünscht.

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In dieser Situation wirkt die Drohung, Russland habe den Kampf noch nicht einmal richtig begonnen, fast schon lächerlich – und der Hinweis auf „Friedensverhandlungen“ rückt in den Vordergrund. Entgegen anders lautender Propaganda benötigt Russland dringend eine Pause der Kampfhandlungen, um seine Armee zu restrukturieren und die Materialbestände aufzustocken. Je schneller, desto besser – weshalb Putins Zusatzdrohung, wonach Verhandlungen umso schwerer würden, je länger sich deren Beginn hinziehe, als Schaumschlägerei verstanden werden sollte. Hier soll lediglich Druck im Kessel erzeugt werden, um möglichst schnell zu einem vorläufigen Ende der letztlich gescheiterten Mission zu kommen.
Gas gegen Zugeständnisse

Dazu passen dann auch Spekulationen, wonach Putin den Gashahn nach Deutschland nach der turnusmäßigen Wartung von Nord Stream 1 zugedreht lassen könnte und gleichzeitig einen einseitigen Waffenstillstand verkündet, um mit dem Westen in Verhandlungen über die Ukraine einzutreten. Motto: Was bietet ihr mir dafür, dass ich den Gashahn wieder aufdrehe?

Tatsächlich könnten vor allem die bereits kriegsmüden Europäer schnell geneigt sein, einen Scheinfrieden zu Lasten der Ukraine zu verhandeln. Das Minsker Abkommen, das von Merkel und Macron nach Russlands Einfall in Krim und Donbas zulasten der Ukraine durchgesetzt worden war, steht Pate.

Über Siege im Süden zu Verhandlungen

Möglicherweise ahnt das auch der ukrainische Präsident Selenskyj. Der hat als Antwort auf Putins Drohung nun die Ukrainer in den besetzten Gebieten im Süden zur Flucht aufgefordert, da eine ukrainische Armee aus „einer Million Soldaten“ bereitstehe, die besetzten Gebiete zurückzuholen.

Auch wenn wir die „eine Million“ als propagandistische Luftnummer im Raum stehen lassen – strategisch macht das durchaus Sinn. Russland hat seine schlagkräftigen Einheiten auf den Donbas konzentriert. Die um Cherson bis zur Krim stationierten Einheiten dürften vor allem zur Sicherung der territorialen Eroberungen vorgesehen sein. Besagte Attacken auf die Bahnversorgung und die Zerstörung des zentralen Kommandopostens nebst Kommunikationszentrale in Tavirisk haben zudem die Versorgung dieser Einheiten erschwert, weshalb es für die Ukraine deutlich mehr Sinn macht, im Süden Erfolge zu verzeichnen, als sich an der Ostfront aufzureiben.

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Gelingt es der Ukraine, die früh gefallene Stadt Cherson zurück zu erobern, wäre das mehr als ein Prestigegewinn. Zudem wäre der Weg frei zur Befreiung der besetzten Gebiete bis zur Krim und an das Asowsche Meer. Odessa als wichtigster ukrainischer Hafen wäre dadurch deutlich entlastet und die Ukraine könnte, sollte es ihr sogar gelingen, bis auf die Krim vorzustoßen, die eigene Verhandlungsposition deutlich verbessern. Russland wiederum erkennt dieses und hat seit den Morgenstunden des Montags den Beschuss der von der Ukraine bereits zurückeroberten Gebiete zwischen Mykolajew und Cherson vor allem mit Fernlenkwaffen deutlich verstärkt.
Verhandlungen für einen Scheinstatus

Sogenannte Friedensverhandlungen, die vor allem Russland die Zeit zur Reorganisation geben sollen, könnten gleichzeitig der Ukraine die Chance geben, sich noch effektiver mit westlichen Waffensystemen auszurüsten. Da deshalb beide Seiten ein Interesse an unmittelbarer Waffenruhe haben könnten, scheinen ernsthafte Gespräche nicht mehr gänzlich ausgeschlossen zu sein.

Denkbar wäre es, dass die Ukraine tatsächlich auf die beiden Ostprovinzen Luhansk und Donezk verzichtet. Das, was dort bisher noch an Schwerindustrie aus Sowjetzeiten von Bedeutung war, liegt ohnehin in Trümmern und ist kaum sinnvoll wieder aufzubauen.

Schwierig aber wird es mit der Krim. Gelingt der Ukraine die Rückeroberung nicht, wird Putin sie nicht aufgeben. Ebenso wird er nicht auf den Landweg zwischen Krim und Donbas verzichten wollen. Hier hängen mögliche Verhandlungen maßgeblich davon ab, ob und wie viel des verlorenen Gebiets eine ukrainische Offensive zurückholen kann.

Und der künftige Status der Ukraine? Das Land hat gelernt, dass Russlands vertragliche Zusagen das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Damit ist der Nato-Beitritt für Kiew eigentlich nicht disponibel. Könnte dieser Beitritt das Zugeständnis Russlands sein, um Donbas, Krim und Landweg zu behalten? Das bisherige Denkmodell, wonach westliche Staaten als Garantiemächte für den Schutz einer neutralen Ukraine eintreten, dürfte Kiew mittlerweile kaum noch reichen. Auch hier hat die Vergangenheit angesichts des Budapester Memorandums gezeigt, dass sie nichts wert sind. Will eine Rest-Ukraine eine souveräne Zukunft haben, wird sie nicht umhin kommen, künftig hochgerüstet zu sein, um den russischen Begehrlichkeiten trotzen zu können.

Nicht aktuell Erreichbares auf später verschieben

Dennoch könnte im territorialen Teilverzicht auch eine Chance liegen dann, wenn die Ukraine tatsächlich Mitglied des Verteidigungsbündnisses wird – und wenn der Westen mit einem Marshallplan antritt, um das gebeutelte Land nach vorn zu bringen. Welche Kräfte dabei in einem dynamischen Volk freigesetzt werden können, hatte die junge Bundesrepublik nach 1949 gezeigt.

Das allerdings ist genau, was Putin wiederum überhaupt nicht wollen kann. Denn seine eigentliche Motivation zum Überfall lag in der Angst, dass das Beispiel einer westlich-dynamischen Ukraine auf die postsowjetischen Autokratien in Russland und Belarus abfärben und die Autokraten aus ihren Stühlen jagen könnte. Insofern ist ihm – wie in Georgien und Armenien – daran gelegen, unsichere Systeme zu schaffen und zu erhalten, deren Situation jeden echten Aufschwung verhindert.

Sollte es also im Spätsommer tatsächlich zu Verhandlungen kommen, werden dort die legitimen Interessen der Ukraine auf die imperialistischen Vorstellungen Russlands sowie einen vor Energieangst zitternden Westen und eine hungernde Restwelt stoßen. Das Hauptproblem: Alle Welt hat gelernt, dass sich Putins Russland nur so lange an Verträge gebunden fühlt, wie sie ihm nützen. Was allerdings auch für die Ukraine hilfreich sein könnte, wenn sie mit der rechten Hand unterschreibt und hinter dem Rücken schwört, alles das, was hier noch nicht durchzusetzen war, bei passender Gelegenheit zu erreichen. Was – daran sollte kein Zweifel bestehen – die russische Gegenseite keinen Deut anders halten wird.

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