Tichys Einblick
Nur Bremsen auf dem Weg zum Recht

Wahlwiederholung in Berlin? Der Schwindel geht weiter

Der Bundestag will eine Wiederholung der Wahl in Berlin – in Teilen. Es ist das gleiche Muster, das den Umgang mit der Pannenwahl seit einem Jahr prägt: Man tut nur so viel, wie man unbedingt muss und wozu man medial gedrängt wird. Viele Abgeordnete interessieren sich in erster Linie für den Erhalt des eigenen Mandats.

IMAGO / Seeliger

Der Eiertanz um die Wahl in Berlin geht weiter. Nun will die Ampelkoalition im Bundestag auf eine Wiederholung der Bundestagswahl in der Stadt hinwirken (TE berichtete) – allerdings nur in ca. 400 Wahllokalen, das sind weniger als 20 Prozent der Wahllokale der Hauptstadt.
Doch auch das scheint nur halb zu stimmen. Denn Abgeordnete von Grünen und FDP gehen jetzt schon wieder auf Distanz zu dem Plan, nachdem die SPD die Sache an die Presse gegeben hatte. „Das war nicht abgemacht“, so zitiert die BZ einen Koalitionär. Die 400 Wahllokale, in denen nach den Ampel-Plänen wiederholt werden soll, seien lediglich das Maximum. Eine Wiederholung in nicht mal einem Fünftel der Wahllokale der Stadt – das ist also überhaupt nur das maximal Mögliche. De facto soll die Zahl offenbar noch niedriger werden.

Das Spiel um den Umgang mit den Wahlpannen in Berlin bleibt eine Farce: Denn die Wahlpannen – und hier sind sich mittlerweile alle bis hin zum Expertenrat des Berliner Senats einig – waren strukturell bedingt. Strukturell falsche Wahlzettelverteilung, strukturell zu wenige Wahlkabinen, strukturelles Chaos durch Berlin-Marathon & Co. Es sind Pannen, die berlinweit vom Senat verursacht wurden; Pannen also, die sich nicht auf bestimmte Wahllokale begrenzen. Die Pannen traten in allen Bezirken auf – in vielen konnte TE das über die uns exklusiv vorliegenden Protokolle des Wahltages nachweisen. In vielen Wahlkreisen allerdings fehlt die genaue Protokollierung – und das führt den Ampel-Plan endgültig ad absurdum.

Woher kommt der Wille zur Tatenlosigkeit? 

TE-Recherchen zeigen, dass im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf jedes zweite Protokoll fehlerhaft ist – ausgerechnet in dem Bezirk, in dem mit die meisten Unregelmäßigkeiten entstanden sind. Ausgerechnet hier fehlen an entscheidenden Stellen Zahlen. Aus den Protokollen wird nach TE-Recherchen klar, dass die Wahllokale im Bezirk mindestens 20 Stunden lang geschlossen wurden, dass rund zwei Drittel der Wahllokale verspätet schlossen.
Mindestens 1.000 Stimmen wurden ungültig, weil falsche Wahlzettel ausgegeben wurden. Potenziell sind es aber eben viel mehr – denn mehrheitlich wurde lediglich vermerkt, dass falsche Wahlzettel ausgegeben wurden, aber nicht, wie viele Wähler das betraf.

Genau diese Zahl ist aber relevant. Denn aus ihr leitet sich ab, ob die Wahlpannen mandatsrelevant sind oder nicht – und damit am Ende auch, ob die Wahl gültig sein kann. Hier wurde von vornherein eine Nebelwolke aufgebaut. Das Ziel offenbar: eine Quantifizierung der einzelnen Pannen unmöglich zu machen – und genau mit diesem Argument eine Wiederholung dann abzuschmettern.

In vielen Wahlprotokollen fehlen Anlagen und zwar jene, die genau über besondere Vorkommnisse aufklären sollen. Wie kommt die Koalition unter diesen Bedingungen auf den Vorschlag, lediglich (maximal) 400 Wahlkreise zu wiederholen?

Insbesondere auf dem Bezirk Lichtenberg, in dem die Linke ihr entscheidendes Direktmandat gewann, soll kein Fokus der Wahlwiederholung liegen. Merkwürdig: Denn TE konnte darstellen, dass es auch hier zu massiven Unregelmäßigkeiten kam.

Woher kommt diese Beschränkung – wenn man in zahlreichen Wahlkreisen doch gar nicht weiß, ob und wie viele Pannen es gab? So detailliert ist der Wahltag nicht mehr aufzuarbeiten, als dass man so messerscharf trennen könnte – denn was nicht protokolliert ist, wird sich kaum rekonstruieren lassen. Bei der Zahl an Pannen würde das eigentlich nur einen Schluss zulassen: eine flächendeckende Wiederholung.

Doch die Politik tickt anders. Zwar sieht man sich durch die anhaltende und eindeutige mediale Berichterstattung der letzten Wochen genötigt, etwas zu tun, will aber so wenig wie nur irgendwie möglich unternehmen. Schließlich hängen gerade bei der SPD viele Mandate so am seidenen Faden. Aber auch die anderen Parteien wollen nicht für zu viel Veränderung sorgen – große Verschiebungen könnten Politiker aller Fraktionen das Mandat kosten.

Beim Vorschlag der Ampel wären in den Berliner Bezirken immer nur ein kleiner Teil der Wahllokale von einer Wiederholung betroffen – so kann von vornherein kaum eine Änderung des Direktmandates entstehen.

Vielen Politikern scheint das Mandat näher als die Wahrheit. Eine Aufarbeitung im Sinne einer tatsächlichen Lösung, die eine sichere Wahl garantiert, ist nicht geplant. Lediglich eine Show-Aktion, die nach Taten aussehen soll, im Ergebnis aber von vornherein auf keine Veränderungen hinausläuft.

Das ist ein roter Faden, der sich durch nahezu alle Institutionen zieht, die mit der Frage befasst sind. Für den Bundestag wie für das amtierende Berliner Abgeordnetenhaus, für den Berliner Senat wie für den Berliner Landesverfassungsgerichtshof ist die Sache vor allem eines: nervig. Man tut nur so viel, wie man muss – und das Muss definiert sich durch den öffentlichen Druck, der auf die Institutionen wirkt. 
Das ist eine höchst gefährliche Untergrabung aller rechtsstaatlichen Prinzipien. Denn es zählt nicht mehr, ob etwas stimmt, sondern nur, wie laut etwas vorgebracht werden kann.

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