Dass einige der führenden deutschen Medien nicht gerade durch ihre kritische Distanz zur Regierung auffallen, ist ein offenes Geheimnis. Allerdings hat diese Symbiose nun mancherorts ein neues Ziel: Ging es im Vorjahr „nur“ darum, die asylpolitischen Entscheidungen der Regierung unkritisch zu befeuern und zu preisen, so hat man sich jetzt etwas von wahrlich historischer Bedeutung vorgenommen: Die Geschichte der „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 soll umgeschrieben werden.
Nun liegt Geschichte zwar zu einem beachtlichen Teil immer im rückblickenden Auge des jeweiligen Betrachters, aber was sich tatsächlich abgespielt hat und wie dies zu bewerten ist, sind immer noch zwei verschiedene Dinge – oder sollten es zumindest sein. Jedoch ist die Geschichte bereits reich an Stationen, an denen es lohnenswert erschien, nicht nur das Geschehene neu zu bewerten, sondern auch das umzudichten, was bisher die Darstellung des Faktischen war – zum Beispiel, wenn etwas unerwarteter Weise so gut gelaufen war, dass man im Nachhinein den eigenen Beitrag zu diesem Resultat größer erscheinen lassen wollte, als er in Wirklichkeit war, oder wenn etwas so erschreckend schlecht über die Bühne gegangen war, dass man später eilig seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen versuchte.
Die Urlüge der gescheiterten Asylpolitik
Heute verraten uns die Akteure der aktuellen Geschichtsrevision praktischerweise selbst, welches der beiden Szenarien im Augenblick zutrifft, denn seit mehreren Wochen macht sich eine Häufung von Veröffentlichungen bemerkbar, die zwei miteinander verwandte Grundtendenzen aufweisen:
Einerseits sollen die Folgen der Migrationswelle für Deutschland vernebelt werden. „Zurück zur Normalität“ titelte passenderweise ein beispielhafter Beitrag in der FAZ von der ansonsten eher stillen Florentine Fritzen im September 2016. Der Grundtenor lautet, dass mittlerweile alles wieder unter Kontrolle sei, sich das Leben in Deutschland nicht spürbar geändert hätte und deswegen im Grunde doch eigentlich gar nichts passiert sei. Anstatt Anhaltspunkte für diese Interpretation der Realität zu präsentieren, bedient man sich lieber der Verleumdung und Denunziation, um denjenigen, die vielleicht noch Probleme mit der Akzeptanz dieser Version der Geschichte haben, klarzumachen, dass sie damit schon zu weit abseits vom gesellschaftlichen Strom schwimmen würden. So verortete der Chefredakteur für digitale Medien bei der FAZ die Leser von Tichy’s Einblick kürzlich in der „Parallelgesellschaft der Hysterie“.
Die zeitweise wahre Darstellung soll korrigiert werden
Was diese Unternehmung neben ihrer Intention noch so ausgesprochen bizarr erscheinen lässt, sind die Widersprüche, die sie im Bild der verschiedenen Redaktionen nach außen erzeugt. So dokumentierten mehrere Autoren erst im August 2016 für Die Zeit fast minutiös, wie die Entscheidung zur Grenzöffnung im September 2015 von Angela Merkel unter extremem Druck und unrealistischen Erwartungen an europäische Solidarität getroffen wurde. Von „Merkels historischer Entscheidung“ ist da die Rede. Ebenso stellte Nikolaus Busse in der FAZ nicht nur einmal lakonisch fest, dass die Bundesregierung nur durch das entschiedene Handeln der Balkanstaaten gerettet worden sei, während Michael Hanfeld und Ursula Scheer ausgerechnet die mediale Berichterstattung zur Flüchtlingskrise einer kritischen Revision unterzogen. Zwar müssen nicht alle Mitarbeiter einer Redaktion derselben Auffassung sein, jedoch erwecken einige Blätter seit einem Jahr den Eindruck, dass innerhalb ihrer Erzeugnisse nur noch einzelne Grüppchen aneinander vorbeischreiben. Aber unabhängig davon, ob dieser auf rein äußerlichen Beobachtungen basierende Eindruck korrekt ist oder nicht – Beiträge zur Stabilisierung der Verkaufszahlen sind es nicht.
Auf breiter Linie wird diese Revision der jüngsten Geschichte folglich wohl kaum überzeugen können. Andererseits muss sie das auch gar nicht, denn einen gesamtgesellschaftlichen Zweck erfüllt dieses neuerdachte Narrativ der Flüchtlingskrise sowieso nicht. Benötigt wird es nur von denjenigen, die damals die politische Verantwortung trugen und sie heute immer noch tragen, die damals unkritisch kommentierten und heute immer noch ihre Seiten füllen müssen und die damals als Experten die Risiken kleinredeten und heute immer noch als Experten herangezogen werden. Baut man heutzutage Mist, residiert aber gleichzeitig tief genug im Dunstkreis des Bundeskanzleramts, kann man darauf vertrauen, dass jemand die Geschichte schon graderücken wird. Deshalb ist Deutschland heute kein Land mehr, das seine Probleme löst – es schreibt sie um, verklärt sie, gibt ihnen andere Namen und alles geht weiter seinen gewohnten Gang.