Am Montag traten, im Abstand von wenigen Minuten, Boris Johnsons Schatzkanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid zurück. Die neue Affäre um sexuelle Belästigungen durch einen nun ehemaligen Chief Whip der Tory-Fraktion (Chris Pincher) dürfte, wenn überhaupt, nur der Anlass der Rücktritte gewesen sein. Viel eher verlässt so ein Teil der Mannschaft ein Regierungsschiff, das die beiden Minister offenbar für ein sinkendes halten. Beiden werden außerdem eigene Ambitionen auf das Amt der Premierministers nachgesagt.
Das hier keine Absprache vorlag, wie Assistenten der beiden Politiker in die Welt setzten, ist kaum glaubwürdig. Im Laufe des Tages folgten weitere Rücktritte von Junior Ministers, darunter die des Ministers für Kinder und Familien, Will Quince, und seines für Bildung zuständigen Kollegen, Robin Walker. Noch eine Reihe nachgeordneter Regierungs- und Fraktionsmitarbeiter reichten ihren Rücktritt ein. In den massierten Rücktritten muss der Nachhall der von Johnson nicht ganz unbeschadet gewonnenen Vertrauensabstimmung vom Juni gesehen werden.
Boris Johnson ernannte noch am Tag der Rücktritte Nadhim Zahawi zum neuen Schatzkanzler und Steve Barclay zum neuen Gesundheitsminister. Barclay ist der Sohn eines Gewerkschaftlers aus Lancashire, Zahawi der Sohn kurdischer Flüchtlinge aus dem Irak, der 1976 im Alter von neun Jahren ins Vereinigte Königreich kam.
Sunak: Öffentlichkeit erwartet kompetente und seriöse Regierung
Sowohl Sunak als auch Javid übten in ihren Rücktrittsschreiben massive Kritik an Johnson. Sunak schrieb, die Öffentlichkeit erwarte zu Recht, dass das Land ordnungsgemäß, kompetent und seriös regiert werde. Daneben finden sich aber auch zahlreiche Selbstrechtfertigungen in Sunaks Schreiben. So habe er Johnson lange unterstützt, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung gewesen seien. Die Entscheidung des britischen Volks für den Brexit habe er immer respektiert. Er pries auch seine eher persönlichen Verdienste um Jobs während der Pandemie, die er durch Kurzarbeit nach deutschem Vorbild „geschützt“ habe.
Überaus kritische Töne schlug auch Sajid Javid an, der einst selbst Schatzkanzler im Kabinett Johnson war. Die britischen Konservativen würden, so Javid, im besten Fall als nüchterne Entscheider gesehen, die von starken Wertvorstellungen getragen werden. Manchmal sei das unpopulär gewesen, zumindest aber habe die Regierung kompetent und im nationalen Interesse gehandelt.
Schon früher Missklänge zwischen Javid und Johnson
„Traurigerweise kommt die Öffentlichkeit unter den gegebenen Umständen zum Schluss, dass wir keins von beidem sind.“ Die Vertrauensabstimmung vor zwei Wochen war laut Javid „ein Moment für Demut“ und – einen Neuanfang. Unter Johnsons Führung sieht Javid keine Besserung, weshalb er dem Premier sein Vertrauen entzog. Allerdings war schon Javids früherer Abschied aus dem Schatzamt im Grunde eine Folge von Missklängen zwischen ihm und Johnson.
Eine weitere Passage aus Rishi Sunaks Brief muss man offenbar so lesen, dass es Sunak war, der Steuersenkungen als Schatzkanzler verhinderte: „Im Zuge der Vorbereitungen unserer Reden zur Wirtschaftslage nächste Woche wurde mir klar, dass unsere Ansätze letztlich zu unterschiedlich sind.“ Manche Dinge seien einfach zu gut, um wahr zu sein. Tatsächlich hatte Sunak sogar Steuererhöhungen vorgeschlagen, um weitere Ausgabewünsche Johnsons zu konterkarieren.
Doch Boris Johnson verkündete seinen Abgeordneten prompt, dass die Steuererleichterungen, die sie fordern, nun „etwas einfacher“ umzusetzen seien, da Sunak seinen Hut genommen habe. Vor 80 loyalen Abgeordneten versicherte Johnson, dass er im Amt bleiben werde. Der Abgeordnete Brendan Clarke-Smith veröffentlichte ein Bild der zuversichtlichen Johnson-Unterstützer (inklusive Johnson) unter dem Motto: „Mit der Arbeit weitermachen“.
Der Parteirechte und Johnson-Kritiker Andrew Bridgen sagte, das einflussreiche Hinterbänkler-Gremium „1922 Committee“ werde sich mit den turbulenten Geschehnissen befassen.
Zweifel an der Popularität der möglichen Nachfolger
Und wenn Johnson wirklich fallen sollte, wer könnte dann an seine Stelle treten? Rishi Sunak scheint aus dem Rennen zu sein, zu eng ist seine bisherige politische Themenbreite. Zudem ist Sunak so reich, dass seine Angetraute es vorzieht, außerhalb des Vereinigten Königreichs zu leben. Etwas mehr „Red Wall“ darf der Tory-Vorsitzende dann doch sein. Javid hat übrigens ähnliche Sträuße mit Johnson ausgefochten, als er noch für Wirtschaftspolitik zuständig war: So war er gegen Stahlzölle, die die britische Produktion unterstützten. Beide Politiker stehen eher für eine klassische Politik im Rahmen des Links-Rechts-Schemas, das der One-Nation-Tory Johnson überschreiten will.
Auch die anderen Namen auf der Liste bersten nicht gerade vor Popularität: Liz Truss gilt als prinzipienstarke, wenn auch etwas graue Außenministerin, strahlt aber ähnlich wie Sunak nicht stark in andere Lager aus. Sie hat umngehend ihre Unterstützung für Johnson und ihren Verbleib im Kabinett bekundet, ebenso die Minister Dominic Raab (Justiz), Priti Patel (Inneres) und Ben Wallace (Verteidigung). Der ewige Rivale und ehemalige Außenminister Jeremy Hunt, der den direkten Wettbewerb mit Johnson um den Vorsitz der Konservativen 2019 verlor, gilt ebenfalls nicht als Publikumsmagnet.
Beachtlich ist, dass ein anderer Johnson-Rivale, Levelling-up-Minister Michael Gove, noch fest auf seinem Kabinettssitz befestigt scheint. Auch Brexit-Minister Rees-Mogg war sogleich behilflich, indem er die neuen Ministerkandidaten vorsiebte. Tatsächlich ist die Unsicherheit über seinen Nachfolger noch immer der Hauptgrund für Johnsons Verbleib in Downing Street.
Kommt eine neue Revolte der Hinterbänkler?
Einige Beobachter wie Patrick O’Flynn im Spectator glauben noch nicht an Johnsons Steuersenkungen. Auch der neue Schatzkanzler Zahawi werde hier letztlich standhaft sein. O’Flynn hält aber Neuwahlen vor Ablauf eines weiteren Jahres für möglich, die Johnson einen Rücktritt ersparen könnten. Ob Keir Starmer dann sein Labour-Gegner sein wird, ist auch noch nicht klar. Denn auch Starmers Parteikarriere hängt derzeit wegen eigener Lockdown-Regelbrüche am seidenen Faden. Labour könnte an dieser Stelle letztlich unbarmherziger sein, als es die Konservativen waren.
Nicht ausgeschlossen scheint auch eine erneute, dann endgültige Revolte der Hinterbänkler. Aber was sollte eigentlich der Anlass dafür sein? Alle Gründe für einen Johnson-Rücktritt liegen inzwischen in der Vergangenheit – oder der Zukunft. Einerseits werden ihm Verfehlungen gegen die eigenen Lockdown-Regeln vorgeworfen, andererseits halten manche seine Regierungsmethode insgesamt für unseriös und bezweifeln seinen Erfolg beim Levelling-Up der nördlichen, benachteiligten Landesteile und bei der Schaffung des neuen „globalen“ Brexit-Britannien. Johnsons Zukunft wird von seinen Erfolgen abhängen, und das sind nicht die schlechtesten Bedingungen für ein politisches System und darin gefällte Entscheidungen.