Der litauische Grenzschutz feiert in diesem Jahr seinen 102. Jahrestag. Um diese Zahl zu verstehen, muss man sich an die erste Neugründung eines selbständigen Litauens erinnern, das sich im Jahr 1918 aus dem Russischen Reich gelöst hatte. 1990 wiederholte sich diese nationale Wiedergeburt durch die Loslösung aus der Sowjetunion. Die Unabhängigkeit vom großen Nachbarn im Osten wollen die Litauer heute nicht mehr missen.
Der EuGH urteilte am vergangenen Donnerstag, dass jenen Migranten, die die weißrussisch-litauische Grenze überschreiten, die Möglichkeit eingeräumt werden muss, einen Asylantrag zu stellen. Die Verhaftung auf litauischem Gebiet und anschließende Zurückweisung („Pushback“) verstoße gegen EU-Recht. Doch die litauischen Gesetze sehen genau dieses Verfahren vor. Daneben wurde diese Praxis auch auf einer Sitzung des EU-Innenministerrats abgesegnet, was zeigt, dass sich jenseits von Kommission, Parlament und EuGH ein Konsens der Mitgliedsstaaten gebildet hat, der an alte EG-Zeiten – vor dem Brüsseler Direktorat – erinnert.
UNHCR: Viele dort sind vermutlich keine Flüchtlinge
Die litauische Innenministerin Agnė Bilotaitė stellte nun klar, dass ihr Land auch weiterhin Migranten daran hindern will, die Landesgrenze von Weißrussland her zu überschreiten. Die litauische Regierung geht sogar noch weiter: Auch erfolgreiche Eindringlinge in das baltische Land werden verhaftet und zurück nach Weißrussland geschickt. Bilotaitė zeigte sich wenig überrascht von dem Luxemburger Beschluss. Sie glaubt, dass die hergebrachte EU-Migrationspolitik und einige der gemeinsamen Rechtsvorschriften den Herausforderungen der Realität nicht gerecht werden – vor allem, wo man es mit undemokratischen Regimen in der unmittelbaren Nachbarschaft zu tun habe, die die Migration instrumentalisierten. Im kommenden Innenministerrat unter tschechischem Vorsitz will Bilotaitė das Thema ansprechen.
Dies Festlegung der litauischen Regierung ist dabei hochaktuell, denn der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko lässt sich auch durch den Ukraine-Krieg nicht von seinem Vorhaben ablenken, illegale Migranten an seine West- und Nordwestgrenzen zu schleppen. Mitte Juni hatten polnische Grenzschützer einen Tunnel entdeckt, der offenbar den gerade erst fertiggestellten, massiven Grenzzaun umgehen sollte. Laut der österreichischen Nachrichtenwebsite exxpress.at wurden weißrussische Soldaten beim graben erwischt.
Sogar die stellvertretende UN-Flüchtlingskommissarin (UNHCR) Gillian Triggs hat inzwischen eingeräumt, dass es sich bei den Grenzübertretern von Weißrussland her meist um schlichte Migranten handele: „Viele der Menschen [dort] sind im wesentlichen Migranten und vermutlich keine Flüchtlinge.“ Allerdings glaubt Triggs, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis sich die Lage an der weißrussischen Grenze wieder vollkommen normalisiert.
Bilotaitė: Wir müssen vorbereitet sein
Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag wies Innenministerin Bilotaitė darauf hin, dass die Lage an der weißrussisch-litauischen Grenze heute meist ruhig sei – sicher auch ein Erfolg der konsequenten Grenzschutzpolitik der Litauer und Polen: „Lukaschenkos Plan, die EU mit illegalen Migranten zu überschwemmen, ist gescheitert.“ Das zeigten auch Erkenntnisse aus sozialen Netzwerken. Allerdings bestehe weiterhin die Möglichkeit von Provokationen, auf die Litauen vorbereitet sein müsse.
Anfang Juli jährte sich die Ausrufung des Ausnahmezustands in der litauischen Grenzregion, der auch weiterhin fortbesteht, der Opfer von den Litauern abverlangte: „Das Jahr erforderte schnelle, unkonventionelle und, ich würde sagen, oft unpopuläre Lösungen, aber diese Entscheidungen waren wirklich unvermeidlich, weil wir gleichzeitig die nationale Sicherheit des Staates gewährleisten mussten“, sagte sie laut dem litauischen Rundfunk LRT. Der Ausnahmezustand erleichterte demnach die politische Entscheidungsfindung und die Koordinierung verschiedener Institutionen. Daneben lässt er die Verwendung besonderer staatlicher Mittel und der Armee zu.