1952 war das Jahr, in dem die Bundesrepublik anfing, die Bundesrepublik zu sein, die wir bis vor kurzem kannten: Erstmals nach dem Krieg war die Handelsbilanz positiv; verkaufte das sieben Jahre zuvor geächtete Land im Ausland mehr Waren, als es dort einkaufte. Auf diesem Überschuss beruhte fortan der Reichtum dieses Landes. Aber der bedeutete eben mehr als nur Wohlstand. Er stiftete Sinn in einem Land, das diesen Sinn durch den Krieg und das von ihm begangene Menschheitsverbrechen verloren hatte. Zu Beginn der 50er Jahre führten die Alliierten noch Umfragen durch, die ergaben, dass die Deutschen mit dem nationalsozialistischen System weiter symphatisieren. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung war das vergessen. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) gewann die Wahl von 1953 klar – 1957 holte er die bisher einzige absolute Mehrheit in der Geschichte der Bundesrepublik.
Wird Deutschland weiter in der Lage sein, seine Identität und seine Politik über seinen Wohlstand zu definieren? Nun sind eine Inflation, eine Stagflaktion oder eine konjunkturelle Krise keine tödlichen Krankheiten. Sie sind eher zu vergleichen mit einem Durchfall: Unangenehm, wenn es auftritt. Aber letztlich reinigt es den Körper, ermahnt zu einer vernünftigeren Ernährung, dauert nicht lange und die Allermeisten überleben es eben. Doch die deutsche Wirtschaft hat keinen Durchfall, kein gebrochens Bein und nicht mal Covid-19. Sie hat Krebs. Der ganze Körper ist befallen und es kann tödlich enden.
Es sind strukturelle Probleme. Zum einen liegt es an den Rahmenbedingungen. Die Gesellschaft altert. Das führt zu zwei Effekten, die sich auf die Wirtschaft auswirken: Wertvolle Fachkräfte gehen in Ruhestand, fehlen in der Produktion und können nicht auf dem Arbeitsmarkt ersetzt werden. Das senkt die Effektivität. Gleichzeitig steigen die Kosten: Die Wirtschaft muss mehr abwerfen, um die Kosten für die Pflege, die Gesundheitls- und die Altersversorgung der Menschen mit zu finanzieren. Beides schreckt Investoren davor ab, in einem solchen Land zu investieren.
Gerne versuchen Politiker, Journalisten und Journitiker jetzt, die deutschen Probleme mit dem Ukraine-Krieg zu erklären. Doch der verschärft sie nur. Das beste Beispiel dafür ist die Energieversorgung: „Der steile Anstieg des Energiepreises, getrieben durch Russlands Schritte, die Menge an Erdgas nach Europa zu begrenzen, hat den Preis für Produkte aus Deutschland in die Höhe getrieben“, schreibt etwa die New York Times. Das stimmt zwar -unterschlägt aber, dass die Verteuerung des Energieverbrauchs schon vor dem Krieg Staatsziel in Deutschland war: So sollte die CO2-Steuer ausdrücklich den Benzinpreis erhöhen, um die Bürger anzuhalten, das Auto öfters stehen zu lassen. Und schon im Januar 2022 hatte Deutschland die höchsten Strompreise unter den Industrienationen.
Mit dem gleichzeiten Ausstieg aus der Atomenergie und der Kohlekraftwerk wollte Deutschland ein Vorbild sein, dem andere folgen. Diesen Optimismus versprühten die Vertreter der Ampel noch kurz vor dem Jahreswechsel, als sie den Koalitionsvertrag vorstellten. Der sah als einen der wichtigsten Punkte den vorzeitigen Ausstieg aus der Kohlekraft vor. „In allen Ländern kann zu vertretbaren Kosten auf Kohle verzichtet werden“, hatte das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ die Politik 2018 ermutigt. Das bezog sich auf eine Studie, in der das Szenario in sechs Nationen untersucht wurde. Der Staatssender Deutsche Welle feierte Deutschland 2014 wegen seines Atomausstiegs als „einsames Vorbild“. Wenn im Herbst und im Winter der Strom rationalisiert werden sollte, wird Deutschland in der Tat sehr einsam sein – aber sehr wenig vorbildlich.
Das weitaus größere Defizit hat Deutschland zu China: Für 18,0 Milliarden Euro hat Deutschland allein im Mai Waren aus China bezogen. Im Gegenzug gingen nur Waren im Wert von 8,7 Milliarden Euro zurück. Das entspricht einem Handelsdefizit von 9,3 Milliarden Euro – in einem Monat. Zu den USA und Großbritanien fällt das Verhältnis positiv aus: Gegenüber den Vereinigten Staaten erzielt Deutschland einen Handelsüberschuss von 3,7 Milliarden Euro, gegenüber dem Königreich um 2,4 Milliarden Euro. Vor allem den Amerikanern ist dieser Überschuss aber schon lange ein Dorn im Auge. Dass er gegen die deutsche Importe vorgeht, hat eine Mehrheit der Amerikaner Donald Trump auf der Plus-Seite angerechnet. Künftiges Wachstum ist hier also nicht zu vermuten – eher das Gegenteil davon.
Noch beruht Deutschlands Stärke vor allem auf dem Verhältnis zur Europäischen Union. In die EU-Staaten verkaufte Deutschland im Mai Waren im Wert von 67,5 Milliarden Euro und kaufte für 61,8 Milliarden Euro Waren zurück. Die Bilanz ist also mit 5,7 Milliarden im Plus. Nur: Diese Stärke hatte schon immer einen Preis. Im Gegenzug für seine positive Handelsbilanz zeigte sich Deutschland in der EU stets großzügig, zahlte mehr ein, als es herausnahm und bewegt sich entgegen einstiger politischer Versprechen und Verfassungsbedenken hin in Richtung „Europäische Schuldenunion“. Diese droht nun zu greifen, da die Europäische Zentralbank unter amerikanischem Druck die Leitzinsen erhöhen muss. Marode Staatshaushalte wie der italienische oder der spanische könnten dann kippen.
Nun könnten hohe Strompreise und erst recht Strommangel die wirschaftliche Stärke weiter abwürgen. Gleichzeitig würden Haushalts-Katastrophen in der EU auch den deutschen Haushalt abschießen. Nur die relative Armut deutscher Bürger würde bleiben. Und die strukturellen Probleme wie Arbeitskräftemangel, hohe Pflegekosten, zerbröselnde Infrastruktur und so weiter. Deutschland muss dringend in Therapie. Nicht nur seine Wirtschaft. Aber die zuerst. Denn sie bezahlt den ganzen Rest. Spoileralarm: Globuli werden nicht helfen. Auch wenn im Falle einer Stromrationierung die Deutschen sehr viel Zeit haben werden, über noch nicht entdeckte Geschlechter nachzudenken oder zerplatzte Heizungsrohre in Alltagsrassismus umzudeuten.