Vor kurzem hat das bayerische Kabinett unter Ministerpräsident Markus Söder gewissermaßen letzte Hand angelegt an die weitgehende Schleifung der nur in Bayern gültigen 10 H-Abstandsregelung für Windräder. Große Teile des Freistaates, die bislang für Windräder tabu waren, können nun von der Windindustrie erschlossen werden. Auch der Denkmalschutz als mögliches Hindernis eines massiven Windkraftausbaus in Bayern wurde fristgerecht aufgeweicht. Windräder seien die „Kirchtürme der Neuzeit“, jubelte die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar zu dem beispielslosen Angriff auf Kultur und Natur zwischen Rhön, Bayerischem Wald und dem Alpenrand.
Ein Umweltpreis für einen CSU-Politiker? Ist das nicht ein Widerspruch in sich, wurde und wird doch konservativen Mandatsträgern von linker und grüner Seite vorgeworfen, sie seien die Erzfeinde jeder ökologischen Politik. Doch die Preisvergabe durch den VLAB war wohlüberlegt, hatte Seehofer doch vor allem als bayerischer Ministerpräsident von 2008 bis 2018 mehrere ebenso mutige wie wegweisende Entscheidungen getroffen, mit denen er zuweilen gegen den erbitterten Widerstand der eigenen Landtagsfraktion umweltpolitische Altlasten entsorgte.
So zog der CSU-Politiker einen Schlussstrich unter Jahrzehnte lange Planungen, die einen Vollausbau der Donau zwischen Regensburg und Passau mit Staustufen vorsahen und den letzten frei fließende Donauabschnitt mit seiner großen Artenvielfalt ökologisch ruiniert hätten. Zudem engagierte er sich für einen dritten bayerischen Nationalpark, ein Vorhaben, das bis zum heutigen Tage jedoch nicht realisiert wurde. Auch der von Seehofers Nachfolger Markus Söder verkündete Verzicht auf eine dritte Startbahn des Münchner Flughafens geht letztlich auf politische Initiativen Horst Seehofers zurück. Und im Streit um die Eindämmung der grünen Gentechnik legte er sich erfolgreich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an. „Diskutieren Sie mal mit jemand, der von der Sache etwas versteht“, lästerte Seehofer bei der Preisverleihung. Dass „grüne“ Gentechnik in Deutschland und Bayern heute kein Thema mehr ist, dürfte vor allem Seehofer zu verdanken sein.
Als sein umweltpolitisches Meisterstück wertet der VLAB freilich die 10 H-Abstandsregelung für Windkraftwerke gelten, bis heute bundesweit einmalig, aber akut existenzgefährdet, seit der von Russlands Präsidenten Wladimir Putin vom Zaun gebrochene Ukraine-Krieg schamlos dazu benutzt wird, um eine völlig aus dem Ruder gelaufene „Energiewende“ schönzureden und eine drohende Energiekrise allein dem russischen Autokraten in die Schuhe zu schieben.
“Der CSU wurde lange Zeit vorgeworfen, sie kümmere sich nicht um Umweltfragen, sondern betreibe, im Gegenteil, eine Politik der rücksichtslosen Zerstörung natürlicher Ressourcen”, sagte Johannes Bradtka, erster Vorsitzender des VLAB am Samstag (2. Juli) im Großen Saal zu Schloss Guttenberg vor rund 100 Gästen, darunter der frühere Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg. “Das mag für die Politik eines Franz Josef Strauß gegolten haben, der das Agrarland Bayern innerhalb kurzer Zeit in einen modernen Industriestaat verwandeln wollte.” Doch schon unter Alfons Goppel habe die Partei begonnen, frühere Fehler zu korrigieren und 1970 mit der Gründung des ersten Umweltministeriums in einem deutschen Bundesland politisches Neuland betreten.
Spätestens unter Horst Seehofer seien beherzte Schritte unternommen worden, um den ökologischen Notwendigkeiten gerecht zu werden. “Dabei bewies der frühere Ministerpräsident großen Mut”, so Bradtka. “Er musste nicht nur gegen mächtige Interessengruppen agieren, die die CSU selbst zum Teil mit groß gemacht hatte, sondern auch Widerstände in seiner eigenen Partei überwinden.”
In seiner mit trockenem Humor gewürzten Replik auf die Lobrede des VLAB verteidigte Seehofer auch sein Eintreten für die umstrittene 10 H-Abstandsregelung für Windräder. Es sei zwar Mode geworden, dass sich Politiker für zurückliegende Entscheidungen entschuldigten, sagte er offenbar mit Blick auf seinen wendigen, sich vor allem an kurzfristigen politischen Stimmungen orientierenden Nachfolger Söder. Doch er halte 10 H im Grundsatz immer noch für richtig und habe sich „für nichts zu entschuldigen“.
Die von ihm vorangetriebene Abstandsregelung habe den Bau von Windrädern nicht verhindern wollen, betonte Seehofer. Er habe jedoch als Ministerpräsident seinerzeit auf massive Proteste insbesondere der ländlichen Bevölkerung gegen immer mehr und höhere Windkraftanlagen reagieren müssen. Dabei sei auch die Möglichkeit geschaffen worden, die staatlich geregelten Abstände bei Zustimmung der betroffenen Bevölkerung zu unterschreiten. Generell sieht 10 H vor, dass der Abstand zwischen einem Windkraftwerk und der nächsten Wohnbebauung das Zehnfache der Anlagenhöhe betragen muss.
Ob Seehofer das Abstandsgebot heute ebenso umfassend gelockert hätte, wie es Söder im Zusammenspiel mit den Windkraft-affinen Freien Wählern jetzt getan hat, ist unwahrscheinlich. Bis dato jedenfalls hat die Abstandsregelung zumindest einen Teil der in aller Welt berühmten bayerischen Natur- und Kulturlandschaften vor der flächendeckenden Industriealisierung bewahrt und zudem verhindert, dass zwischen der tiefgrünen Stadt- und einer eher konservativen Landbevölkerung, die im Zweifelsfall die Folgen des Windkraftausbau auszubaden hat, tiefe Gräben aufgerissen wurden. Doch Seehofers Brandmauer ist nur noch eine Ruine, der bayerische Sonderweg in Sachen Windkraft Geschichte.
Und welch bittere Ironie: Ausgerechnet in dem für seine uralten Buchenbestände bekannten Steigerwald in Unterfranken, der lange als möglicher Kandidat für einen dritten bayerischen Nationalpark gehandelt wurde, plant die Gemeinde Geiselwind jetzt ein Windindustriegebiet mit bis zu zwanzig Rotoren. Seehofer hatte sich einst gegen den Steigerwald als Nationalpark-Standort entschieden, weil er die Proteste der ortsansässigen Bürger für unüberwindbar hielt und einem möglicherweise leichter zu realisierenden Donauauen-Schutzgebiet den Vorzug gegeben.