Der Wortwechsel ist legendär: Nach der Bundestagswahl im Herbst 2005 warf Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Frage auf, ob man Karl Lauterbach in die Koalitionsverhandlungen einbeziehen sollte. „Wenn wir ihn draußen lassen, pinkelt er uns ans Zelt“, gab sie zu bedenken. Doch Peter Struck kannte seine Genossen und fackelte nicht lange: „Und wenn ihr ihn reinholt, pinkelt er euch ins Zelt!“, war seine klare Botschaft.
Natürlich hat Lauterbach sich auch in der Folgezeit stets überall hineingedrängt. Wenn die Fraktion wieder einmal einen Gesundheitsexperten befragen wollte, meldete sich Lauterbach auf der Stelle und ließ seine Kollegen wissen, das könne man sich sparen, da man doch ihn habe und er ja alle relevanten Studien kenne. Dabei war längst bekannt, dass er stets nur diejenigen Studien zitierte, die ihm passten, und diese zudem genau so interpretierte, wie es ihm passte.
Seither sitzt ein selbstverliebter politischer Autist an der Spitze des Gesundheitsministeriums. Initiativen kommen von ihm ausschließlich zum Corona-Thema, und trotzdem – oder gerade deswegen – ist die Corona-Politik seit seinem Amtsantritt noch chaotischer als zuvor.
Und da er sich auch als Minister am liebsten von sich selbst beraten lässt, drängt er natürlich auch als Teilnehmer in die eigentlich zu seiner Unterstützung eingesetzten Expertenkommissionen, um ihnen seine Meinung aufzuzwingen oder sie durch seine gefürchteten Monologe gleich ganz auszuschalten.
In guten Zeiten hatte die Führung der SPD stets darauf geachtet, dass hinter einem unvermeidlichen Pseudo-Minister wenigstens die Staatssekretäre den Laden am Laufen halten. Doch diesmal haben Malu Dreyer und Manuela Schwesig als Drahtzieherinnen dafür gesorgt, dass auch die Leitungsebene hinter Lauterbach versagt. Denn Thomas Steffen ist vielleicht ein guter Verwalter, aber kein Impulsgeber. Und Antje Draheim ist als geradezu gespenstischer Totalausfall ein Garant für die Demotivation auch der nachfolgenden Ebenen des Ministeriums.
Mit Wehmut denkt man zurück an die Zeiten von Ulla Schmidt. Denn bei aller politischer Rigorosität der Aachener Sonderpädagogin: von 2001 bis 2009 wurden unter ihrer Ägide strukturelle Reformen noch angepackt und auch umgesetzt.
Legendär ist ihr politischer Enthauptungsschlag gegen die kassenärztliche Selbstverwaltung. Bis 2004 war das Parlament der deutschen Kassenärzte ein unbequemer Haufen ehrenamtlich tätiger Freiberufler, der immer wieder öffentlichen Widerstand gegen gesetzliche Regelungswut geleistet hatte. Seit Ulla Schmidts GKV-Modernisierungsgesetz jedoch drängeln sich frustrierte Praxisärzte scharenweise um die hochbezahlten Hauptämter der Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie organisieren jetzt nicht mehr den Widerstand der Ärzteschaft.
Stattdessen werden sie fürstlich entlohnt für das genaue Gegenteil, nämlich die eilfertige Umsetzung jedes noch so absurden Gesetzesprodukts.
Tatsächlich gab es seit Ulla Schmidt keinen Gesundheitsminister mehr, dessen Kernanliegen die Fortentwicklung eines zukunftsfähigen Gesundheitswesens war. Ihr Nachfolger, der FDP-Arzt Philipp Rösler, bewies bereits vor Karl Lauterbach, dass Ärzte im Regelfall die schlechtere Wahl für die Leitung eines Gesundheitsministeriums sind. Denn wer es als Arzt bis in diese politischen Höhen schaffen will, muss in der Regel alle ärztlichen Tugenden hinter sich lassen. Wer sich dem nicht beugen wollte, dem wurde schon zu Zeiten Herbert Wehners die unerbittliche Frage ins Gesicht gebrüllt: „Bist du Arzt oder Genosse?“
Eine vergleichbare Strafversetzung ereilte dann auch Gröhes Nachfolger Jens Spahn, der sich bereits als Finanzminister gesehen hatte. Allerdings kam hierbei Angela Merkels bewährte Taktik zum Einsatz, potenzielle Rivalen oder Störenfriede auf solchen Geleisen abzustellen, auf denen sie nichts gewinnen, aber alles verlieren können.
Das alles könnte Stoff für eine kabarettistische Aufarbeitung liefern, wenn die Lage unseres Gesundheitswesens nicht derart dramatisch wäre. Denn das deutsche Erfolgsmodell einer selbstverwalteten Gesetzlichen Krankenversicherung macht angesichts katastrophaler Finanzierungslücken derzeit erste Nahtoderfahrungen. Eine vom Finanzminister abhängige und damit chronisch unterfinanzierte staatliche Krankenversorgung nach britischem oder italienischem Vorbild scheint kaum noch abwendbar. Dazu mehr in Teil 2.
Karl Lauterbach ist derzeit noch vor Christine Lambrecht die beliebteste Wette in der Berliner Szene. Die Mehrheit geht davon aus, dass er bei einer größeren Kabinettsumbildung in jedem Fall ausgetauscht wird. Und wenn die SPD die Niedersachsen-Wahl am 9. Oktober verlieren sollte, dürfte er mit Sicherheit dabei sein.
Damit wäre das Gesundheitswesen noch nicht von der schiefen Bahn geholt. Aber es bestünde wenigstens wieder die Chance auf eine vernunftgeleitete Gesundheitspolitik. Vielleicht hofft ja deswegen sogar die SPD-Spitze auf Schwarz-Grün in Hannover.
Weiter in Teil 2: Auf dem Weg in die staatliche Mangelverwaltung
Dr. med. Lothar Krimmel, Facharzt für Allgemeinmedizin, war von 1992 bis 2000 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und damit ein genauer Kenner des Medizinsektors.