Die Lage scheint ernst zu sein für Emmanuel Macron. Am Mittwoch stellte er sich einmal mehr vor die Kameras der Nation, um dem Land etwas zu sagen, live auf fast allen Kanälen – so wie schon zu Beginn der Pandemie und dann wieder, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Aber eins war neu: Diesmal ging es nicht mehr um Notstand oder Krieg, sondern um ihn selbst und die Verteidigung seiner Macht.
Das muss auch Macron feststellen und eingestehen: „Ich kann die Brüche und tiefen Gräben im Land nicht ignorieren, die sich in unserem Parlament ausdrücken.“ Seine Antwort darauf liegt nahe: Die präsidentielle Mehrheit muss erweitert werden. Macron will nun gar „auf andere Weise regieren und Gesetze machen“. Man darf allerdings gespannt sein, auf welche Gesprächspartner Macron zugehen wird und für wen seine bei dieser Gelegenheit proklamierten Werte „Dialog, Zuhören, Respekt“ gelten sollen.
Werden die Gesprächsangebote nur für die Konservativen und gegebenenfalls für das Linksbündnis NUPES gelten? Oder wären auch Projekte denkbar, bei denen Macron auf die Stimmen des Rassemblement national (RN) zurückgreifen würde? Letzteres behauptete kurzerhand eine Macron-Abgeordnete, Céline Calvez aus der Hauptstadtregion Île-de-France: „Wenn wir eine Mehrheit brauchen, werden wir auch die Stimmen des Rassemblement national suchen.“
Das wies allerdings die Regierungssprecherin Olivia Grégoire zurück: Es gebe „nicht für eine Sekunde“ den Gedanken, Vereinbarungen mit dem RN zu suchen. Ob das so bleibt, daran könnte sich das Funktionieren oder nicht der fünften Republik entscheiden. Denn natürlich sind keine zwei Parteien zu einer förmlichen Koalition verdammt, aber es kann Situationen geben, in denen man gezwungen ist zusammenzuarbeiten.
Notmaßnahmen für Kaufkraft und „Gesundheit“ noch im Sommer?
In der vergangenen Woche traf Macron Vertreter aller Parteien, auch Marine Le Pen, wobei jeweils die allgemeine Bereitschaft bekundet wurde, am demokratischen Prozess mitzuwirken. Eine Regierung der nationalen Einheit hält er laut seiner Rede an die Nation noch nicht für nötig. An deren Stelle sieht er zwei andere Wege, um „auf neue Art“ zu regieren: wechselnde Mehrheiten oder eine feste Koalition. Und natürlich gilt es dem Präsidenten als dringend, dass er wieder eine Mehrheit hat. Schließlich möchte er im Sommer noch Maßnahmen gegen die schwindende Kaufkraft der Franzosen beschließen. Zum anderen malt er erneut das Gespenst von „Notmaßnahmen für unsere Gesundheit“ an die Wand.
Es lässt sich offenbar ganz gut regieren im ewigen Gesundheitsnotstand. Die pseudo-pandemische Lage würde so den Druck zur Regierungsbildung verstärken. Demgegenüber treten wirtschaftspolitische Vorhaben schon fast in den Hintergrund. Die starken oder mutigen Entscheidungen in Sachen Energie- und Klimapolitik, jenem ewig uneinigen Zwillingspaar, können nicht fehlen, sind aber inzwischen weniger ein grünes als ein realpolitisches Thema geworden, bei dem man richtig vorlegen müsste.
Mehr Schulden oder höhere Steuern will Macron angeblich nicht akzeptieren, das stellt er als rote Linie dar und redet dann noch etwas allgemein über „Kompromisse, Verbesserungen, Abänderungen“ und all das allerdings mit „vollkommener Transparenz“. Das klingt schon nach dem Kleinklein der Koalitionsverhandlungen. Aber mit welchen Partnern könnte er seine Pläne überhaupt durchsetzen? Die Républicains haben eine förmliche Koalition oder feste Bindung abgelehnt. Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise, „Aufsässiges Frankreich“) vertritt in vielem das diametrale Gegenteil von Macron und hat die Sozialisten und Grünen noch auf seiner Seite, die Kommunisten sowieso. Das Rassemblement national würde für eine Zusammenarbeit mindestens ein Entgegenkommen erwarten.
Die Wähler haben genug von einfachen Frontstellungen
Es sieht also trübe aus für Macron. Nun stehen erst mal Gipfeltreffen für ihn an – vom EU-Rat in Brüssel über den Berliner G7-Gipfel bis zum Nato-Gipfel in Madrid. Eine Woche wird er so abwesend sein, und für seine Rückkehr hat er schon fest vor, jene „neue Methode der Zusammenarbeit“ anzuwenden, von der er in seiner Rede sprach. Ein Leser fasste Macrons Worte bündig zusammen: „Ich habe Feuer ans Haus gelegt, nun ist es an Ihnen, meine Herren, es zu löschen.“ An der Kompromissfähigkeit Macrons zweifeln einige.
Dem Präsidenten wird außerdem einiges aus seiner ersten Amtszeit übelgenommen, aber das ist nicht alles – man beurteilt auch seinen Charakter nach dem, was von ihm angerichtet wurde. Etwa dass er in der Corona-Pandemie weitgehend am Parlament vorbei regierte, gestützt nur auf den wissenschaftlichen Expertenrat und – das ist eine französische Besonderheit – den Verteidigungsrat, der quasi in den „Covid-Krieg“ zog. Daneben wird ihm vorgeworfen, Politik nur zu inszenieren als Kampf des „vernünftigen Progressismus“ gegen den „populistischen Extremismus“. Sogar bei Menschen, die Le Pen und ihrer Partei vielleicht nicht nahestehen, hört man heraus, dass die französischen Wähler die einfachen Frontstellungen auf vielen Themenfeldern durchschaut haben. Sie erwarten sich mehr als tumbes Holzen gegen das RN oder diejenigen, die gerade der „Gegner“ der „guten Regierenden“ sind.
Kurzum: In Frankreich könnte eine wirkliche Verfassungskrise anstehen, in der es zu keiner Einigkeit zwischen dem neugewählten Präsidenten und den ebenso frisch gewählten Volksvertretern kommt. Es muss also nicht durchaus eine Regierung geben. Könnte Macron dann auch mit quasi autokratischen Vollmachten regieren? Ganz so weit ist es wohl noch nicht, auch wenn sich gerade alle politischen Konkurrenten auf die Hinterfüße stellen.
Le Pen: Macron kann nicht mehr tun, was er will
Jean-Luc Mélenchon reagierte auf Macrons Rede mit der Behauptung, der Präsident habe bei seiner Wiederwahl kein „eindeutiges Mandat des Landes“ erhalten. Es sei vor allem eine Verhinderungswahl gegen Le Pen gewesen. Die Exekutive, die Macron anführt, sei folglich „schwach“. Und so fordert Mélenchon, dass Premierministerin Elisabeth Borne sich einer Vertrauensabstimmung im Parlament unterwerfen und zurücktreten soll, wenn sie sie verlöre. Das ist ein grundsätzlich logischer Vorschlag. Auch vom Macron-Partner François Bayrou kam Kritik an der notorischen Technokratin Borne. Bayrou wünscht sich stattdessen einen „politischen Premierminister“.
Der Vorsitzende des Rassemblement national (RN) Jordan Bardella sieht die Arroganz Macrons zum ersten Mal „stagnieren“, seit er seine Mehrheit im Parlament verlor. Das Volk habe gesprochen. Seine Fraktion wolle „standfest, aber konstruktiv“ sein und die Interessen Frankreichs und der Franzosen in den Vordergrund stellen. Der Vorsitzende der Républicains, Gilles Platret, war gegenüber dem Nachrichtensender BFM TV der Meinung, dass Macron eine Verfassungskrise vorbereite.
Le Pen bot sogar den Mitgliedern anderer Parteien an, sich ihrer Fraktion anzuschließen. Die Fraktion, die sie führen wird, sei „nicht exklusiv Rassemblement national“. Gerichtet war dieser Aufruf vor allem an Abgeordnete der konservativen Républicains, die „nicht die Stütze Emmanuel Macrons“ sein wollen. Vor allem freute sich Le Pen aber, dass Macron nun „nicht mehr tun kann, was er will“.