Tichys Einblick: Nach 14 Jahren legen Sie nun wieder einen großen Roman vor – begleitet von einem Medientusch: Ohne eine Zeile davon zu kennen, warnten mehrere Halbprominente Ihren Verlag, ihn zu veröffentlichen. Als er erschien, schrieb ein Feuilletonredakteur über die „cognacfarbenen Lederschuhe“, die Sie bei Ihrer Lesung in Dresden trugen. Bildet das alles nicht eine Art Begleitroman zu Ihrem Roman? Wie gefällt er Ihnen bisher?
Uwe Tellkamp: Die von mir an diesem Abend getragenen Lederschuhe sind rot, an einigen Stellen altersgerecht und belastungsbedingt nachgedunkelt, ein changierendes Rot also. Der Tomatenfrosch hat in grafischen Abbildungen dieses Rot, auch einige Kröten, als Warnfarbe; man muss ja bei sich bleiben. Zu diesen Schuhen hatte ich in Dresden übrigens rote Socken mit kleinen Vampirabbildungen getragen. Die sah der Feuilletonmitarbeiter nur nicht so gut. Das heißt, noch weniger gut als die Schuhfarbe. Einen Cognac dieser Schuhfarbe kenne ich jedenfalls nicht. Vielleicht ist es eine Vampirmarke? Der Begleitroman zum „Schlaf in den Uhren“ trägt wechselnde Titel, etwa: „Der Schlaf der Uhren“, „Das Schaf und seine Spuren“, sowie „Das Penner:in“, der wohl das Wesen am besten trifft.
Sie sind der wahrscheinlich am besten observierte Autor in Deutschland: Jede Äußerung von Ihnen wird abgeklopft, jeder Kontakt beäugt, jeder Text auf Skandaltauglichkeit überprüft. Fühlen Sie sich damit wohl, eine ganz und gar öffentliche Person zu sein?
Sie machen sich lustig über die Medienschaffenden.
Auf vieles kann man nur mit kabarettistischen Mitteln reagieren. Die Buchpremiere fand in Potsdam statt, in der Villa Quandt – ein Gebäude übrigens mit interessanter Geschichte, dort befand sich bis 1990 die Zentrale der KGB-Auslandsspionage in der DDR. Neben vielen interessierten Lesern saßen dort auch Redakteure, die mich schon länger liebevoll begleiten. Die Fontane-Gesellschaft, die heute in der Villa sitzt, hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu erklären, dass sie nur im gleichen Haus sitzt, aber nichts mit meiner Lesung zu tun hat. In einer Erklärung der Gesellschaft hieß es: „Wir stehen für ein Miteinander von Regionalität und Internationalität, für eine freundliche Multikulturalität und für Diversität. Eine Veranstaltung mit Herrn Tellkamp passt aus unserer Sicht nicht zu diesem Selbstverständnis.“ Der Buchhändler, der die Lesung dort organisierte, hatte die Idee einer sogenannten Einlaufmusik. Als wir in den Saal kamen, trug er einen Ghettoblaster auf der Schulter und spielte „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“. Ich weiß gar nicht, ob die Rezensenten das auch in ihre Texte eingeflochten haben.
Haben Sie denn die Besprechungen noch nicht gelesen?
Die meisten nicht. Sie rezensieren ja vor allem den Autor und kaum das Buch.
Was treibt Ihre Rezensenten und Beobachter Ihrer Meinung nach an?
Pädagogik. Der Uwe ist noch bildungsfähig. Ich frage mich tatsächlich ab und zu: Was treibt diese Leute? In den Medien werden offenbar Figuren gebraucht, die zwar Namen und Gesicht real existierender Personen haben, ansonsten aber völlige Erfindungen sind. Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz, in dem ich gelesen hatte, geistert seit Jahren als Anführerin eines riesigen rechtsintellektuellen Netzwerks durch die Presse, eines Netzwerks, das von den Dresdner Elbhängen bis Berlin Mitte reicht und kurz davorsteht, die Republik zu kippen. Zur nächsten Lesung wollen wir am Buchhaus ein Schild mit der Aufschrift „Die Kaderschmiede“ aufstellen. Die Erzählung von einer Buchhändlerin, die nur zur Tarnung Bücher verkauft, und in ihrem Häuschen in Wirklichkeit rechte Kader schmiedet – das ist durchaus eine Art Literatur. Auch die mediale Figur „Uwe Tellkamp“ ist eine Fiktion.
Gab es besondere Höhepunkte in Ihrem Verhältnis zu den Medien?
Ihr neuer Roman spielt in dem fiktiven Stadtstaat Treva, der sich als riesiges Labyrinth erweist. Warum haben Sie die Familiengeschichte des „Turm“ nicht weitergesponnen?
Die Garne waren abgerissen, Dornröschen bitter aus dem Schlaf geküsst. Der Text musste anders weiterwachsen, modernere Spindeln und Webtechniken eröffneten Spinn- und Transparenzkampagnen. Wer eine direkte Fortsetzung des „Turm“ erwartet, wird sicherlich enttäuscht sein. Wer etwas über Machttechniken erfahren will, findet im „Schlaf in den Uhren“ vielleicht etwas für sich.
Bleiben wir einmal bei dem Labyrinth, in das Sie den Leser schicken: In dem Labyrinth, von dem aus ein Geheimdienst den ganzen Staat steuert, denken Mitarbeiter über die Wiedereinführung von Stahlfedern und Sütterlinschrift nach, sie benutzen Schreibmaschinen. Müssen Sie die Gegenwart erst einmal verlassen, um davon erzählen zu können?
Gegenwart ist „hier unten“ nur eine der betretbaren Etagen. Hier unten gibt es mehrere Zeiten nebeneinander, und wer den A-Passierschein besitzt, kann Mitarbeiter des Seeminenreferats und zugleich des Zeitarbeiterkollektivs sein; er führt Kriegstagebuch im OKW und sieht einen kleinen Jungen namens Meno Rohde im Hotel Lux unter Stalin. Auch eine „Österreichische Correspondenz“ spielt in dem Buch eine Rolle. Die späte DDR hatte viele Parallelen zur Zensurpraxis unter dem Staatskanzler Metternich. Unter ihm gab es bekanntlich auch eine Zentraluntersuchungskommission und die Demagogenverfolgung. In den letzten Jahren der DDR erschien in der weißen Reihe von Reclam ein Buch von Heinrich Hubert Houben: „Hier Zensur – wer dort? Der gefesselte Biedermeier“ über die Zensurpraxis in der Metternich-Ära. Die Veröffentlichung dieses Buchs in der DDR war vermutlich ein erfolgreicher subversiver Streich. In dem Romanlabyrinth gibt es allerdings nicht nur Schreibmaschinen, sondern auch hochkomplexe künstliche Intelligenz.
Über größeren Teilen des Romans scheint die Musik des „Rosenkavalier“ zu schweben, besonders die Arie der Marschallin, in der es heißt: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. /Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ Spielt dieser Hofmannsthal-Text eine besondere Rolle für Sie?
Der Befund vieler Rezensenten lautet: Tellkamp will eigentlich beweisen, dass die Bundesrepublik sich in eine große DDR verwandelt hat. Wie würden Sie jemandem, der nichts von der deutschen Geschichte weiß, die Gesellschaftsform beschreiben, in der Sie leben?
Als Blendwerk, rein architektonisch gesprochen.
Im „Schlaf in den Uhren“ kommen sehr viele Charaktere vor, die es als ihre Aufgabe sehen, die Gesellschaft zu ihrem Besten zu lenken. Können Sie diese Figuren im realen Leben verstehen? Oder bleiben sie Ihnen völlig fremd?
Es gibt natürlich diesen abgründigen Aspekt. Die Geheimdienstarbeit ähnelt der des Lektors durchaus, nur lesen diejenigen, die dort tätig sind, eben Menschen und nicht Bücher. Meno Rohde kommt bei dieser Tätigkeit seine Ausbildung als Zoologe entgegen, die Fähigkeit, Arten zu unterscheiden und vor allem kleine Abweichungen von der Norm zu erkennen. Beim Schreiben habe ich mich auch manchmal gefragt, welcher Kollege für welche Tätigkeit im Labyrinth infrage kommen könnte.
Sie haben von ihrem Roman als „Botanisiertrommel“ gesprochen. Erkennen sich die Vertreter des Medien- und Politikbetriebs wieder, die hier literarisch bearbeitet auftreten?
Das Geschrei höre ich als Schmerzenslaute, wie sie ein Zoologe beim Aufnadeln seiner Objekte vernehmen mag.
Aber Insekten leben doch nicht mehr, wenn sie aufgespießt werden.
Aber so gehen Sie im Roman nicht vor?
Wer weiß?
Gibt es auch reale Personen, die lachen können, wenn sie sich in einer Romanfigur wiedererkennen?
Das kommt auf die Person an. Sie selbst kommen übrigens auch vor.
Jaja, als armer Redakteur der Trevischen Nachrichtenagentur und Mitarbeiter der Tausendundeinenachtabteilung … Erste Vorleseerfahrungen haben Sie nun bereits gesammelt. Wird im Publikum gelacht?
Wenig. Die Zeitungen sagen, dem Pressesprecher des Tellkamp fehle es an Humor, und was in den Zeitungen steht, erst recht was das 1. und 2. Trevische Fernsehen sagt, ist schließlich faktengecheckt und gegengelesen; es besitzt diverse Qualitätsstempel. Auch muss man aufpassen, mit wem gelacht werden würde, wenn man lachen würde. Es könnte zu Kontaktgelächter kommen. Wie heißt es bei Günter Grass? „Wer hier lacht, macht Verdacht / dass er aus Gründen lacht.“
Bei Ihnen gibt es lange verfremdete Passagen, aber auch – in der Chronik des DDR-Zusammenbruchs – fast dokumentarische Abschnitte. Betätigen Sie sich ganz nebenbei, wie schon im „Turm“, als Historiker?
Haben Sie schon einmal daran gedacht, auszuwandern?
Das tue ich nahezu jeden Tag. Ich wandere „nach unten“, in den Berg, in die Labyrinthe und zu den Akten. Dort atmen schweigend andere Zeiten.
Das heißt, das Romanprojekt, in dem der „Turm“ und „Der Schlaf in den Uhren“ nur Teile bilden, geht weiter?
Ich hatte den Verlag gefragt, ob er bereit ist, das ganze Projekt zu machen. Das war er. Ja, von mir aus geht es weiter.
Ohne die Bücher in eine Reihe stellen zu wollen: Dave Eggers entwirft in „Every“ das Bild einer fürsorglichen Überwachungsdiktatur, Michel Houellebecq in „Vernichten“ ein Frankreich mit einer verkommenen Presse und einem clownesken Präsidentschaftskandidaten. Ihr Roman blickt auch nicht optimistisch auf die Gegenwart. Sehen Sie trotzdem die Chance auf eine bessere Gesellschaft?
Doderer verglich das „bedeutende Ereignis“ in der Geschichte mit einem Steinwurf in einen See: Die Wellen kräuseln sich, rollen ans Ufer, die Bilder werden unleserlich; aber nach einer Weile beruhigt sich alles, still liegt er wieder, der See, die Anwohner gehen wieder Tennis spielen, ins Theater und trinken Wein, denken an Fahrerlaubnisverlängerung und den nächsten Debütantenball. Es scheint ein Pendelschlag zu existieren, wir fahren jetzt für eine Weile nach links, dann wird es wohl für eine Weile nach rechts gehen, und um die Mitte bleibt das Fazit des gelebten Lebens. Und sage keiner, es sei nicht interessant.
Uwe Tellkamp, Der Schlaf in den Uhren. Archipelagus I. Roman. Suhrkamp, 904 Seiten, 32,00 €.