Bereits seit letztem Jahr treibt eine doppelköpfige Chimäre ihr Unwesen in Europa. Es ist die Nachfolgekreatur von Merkozy. Hatten einst der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als bekannteste Aushängeschilder der europäischen Politik gegolten, kündigen sich nunmehr tiefgreifende Veränderungen an. Das Duo aus dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erlangte bereits letztes Jahr die Bezeichnung „Dracron“. Bereits im September des letzten Jahres verwendete der Spiegel den Terminus für das Duo aus den beiden größten romanischen Ländern. Focus und Welt übernahmen die Wortschöpfung nur wenige Tage später.
Die Financial Times hatte zuvor ähnliche Töne angestimmt. Am Wochenende nahm die Deutsche Welle die Thematik auf und verwies darauf, dass der Begriff mittlerweile auch in den französischen und italienischen Medien kursiere. In Italien wiederum deutete der Libero den Beitrag der DW als Anzeichen, dass man in Berlin offenbar selbst um die eigene Stellung bange. Während die DW abwiegelt, dass die jetzige Erscheinung nicht das deutsch-französische Tandem ersetzen könne, sind Zweifel an dieser Stelle durchaus angebracht. Denn anders als die Medien suggerieren, datiert die machtpolitische Zeitenwende in der europäischen Außenpolitik nicht auf den Abtritt Merkels. Sie ist lange vorbereitet. Denn es war die Kanzlerin selbst, die den Stein ins Rollen brachte. Bereits der Finanz- und Eurokrise haftete der Widerspruch an, dass er Frankreich und Deutschland in die Verantwortung brachte, Paris und Berlin zusammenschweißte – obwohl beide Länder stark divergierende Interessen hatten.
„Dracron“ ist eine Schöpfung Angela Merkels
Auf Sarkozy, der trotz seiner Schwächen Frankreich im europäischen Mächtekonzert eine wichtige Stimme gab, folgte François Hollande. Er war ein Glücksfall für die deutsche Position. Obwohl Frankreich weiterhin über starke Vernetzungen und einflussreiche Persönlichkeiten in Brüssel verfügte, erwies sich Hollande selbst als schwache Figur. Die Passivität Frankreichs wird erst aus der Retrospektive klar, sieht man die vielfachen Vorstöße seines Nachfolgers. Akzente setzte Hollande nur wenige.
Die Migrationskrise 2015 riss Deutschland als „sein“ Thema an sich, statt den bedrängten Griechen und Ungarn Hilfe zu leisten und diese beim Grenzschutz nachhaltig zu unterstützen. Stattdessen erklärte Merkel das Problem zur Chefsache. Ergebnis: Deutschland als Magnet für Migrationsströme, zerbrochenes Tafelsilber mit EU-Partnern und das bis heute bestehende Bild eines Schlaraffenlandes, das die Schuld lieber nach Athen, Rom, Madrid oder Warschau abschiebt, statt die Pull-Faktoren auszuschalten, mit denen es die Beladenen und Bedrückten aus der ganzen Welt anzieht.
Die Bevormundung anderer EU-Staaten in der Causa sind bis heute unvergessen. Berlin glaubte, mit seiner moralisierenden Migrationspolitik die Herzen der Welt gewonnen zu haben – die Medien behaupten das bis heute –, während die Mehrzahl der Europäer schockiert über die Wankelmütigkeit und Willkür des Riesen im Herzen des Kontinents war.
Der Brexit bedeutete das Ende deutscher Dominanz in der EU-Politik
Kausal verwoben damit ist die nächste von Merkel vollzogene Weichenstellung: nämlich der Brexit 2016, bei dem für viele Briten die deutsche Haltung und Politik 2015 ein Hintergrund war, die maßgeblich die EU-Politik in diesem Bereich mitbestimmte. Dass deutsche Medien und Politiker ebenfalls einen Anteil an der Missstimmung hatten, ist kein Geheimnis. Es wird für spätere Historiker noch ein Rätsel bleiben, wie die deutsche Bundesregierung sich jahrelang mit Milliardengeldern darum bemühte, das kleine Griechenland in der EU zu halten und dieses unter allen Umständen zu retten, sich aber einen Dreck um das bedeutende Albion scherte, das finanz- wie europapolitisch entscheidend war, um die deutsche Position in den Schlüsselbereichen weiterhin durchzusetzen.
Mit dem selbst verschuldeten Abschied der Briten aus der EU hatte Merkel den Scheitelstein für den Niedergang der deutschen und den Aufstieg der lateinischen Dominanz gesetzt. Mit der Verstärkung des romanischen Impulses und der Ausschaltung des angelsächsischen musste zwangsläufig auch die Mentalität wechseln. In der harten politischen Währung heißt das: Mehrheiten für die Schuldenunion, die Unumkehrbarkeit des weichen Euros und die Zentralisierung zu einem Bürokraten-Imperium. In den Jahren 2017 bis 2021 pellte sich lediglich das verschleiernde Gerüst ab, das Merkels Bauwerk verhüllte.
Trotz Geldpolitik: Italien und Frankreich sind keine natürlichen Verbündeten
Für Macron war die deutsche Karte zuerst die ergiebigere, weil 2017 in Italien eine Regierung aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega kam, die ebenfalls deutlich stärkere Akzente in Europa setzte und sich als Gegenpol zu Paris inszenierte. Aus europäischer Perspektive waren damit die Jahre 2017 bis 2019 schon französisch-italienisch gezeichnet, wenn auch eher als Gegner denn als Alliierte. Berlin rückte dafür in den letzten Jahren der Ära Merkel in den Hintergrund. Auch dem Ausland blieb der physische Verfall der Kanzlerin nicht verborgen.
Gegner des neuen Tandems können nur auf die Instabilität Italiens hoffen
Obwohl in Deutschland die reduktionistische Ansicht vorherrscht, finanzpolitische Erwägungen müssten Italien prinzipiell zu einem Verbündeten Frankreichs machen, herrscht nach wie vor eine aus vielen Gründen bedingte Rivalität – freundlicher gesagt: ein Konkurrenzwettbewerb – zwischen den beiden romanischen Nationen vor. Um nur eines der Beispiele zu nennen: In der Mittelmeerpolitik haben beide Länder divergierende Interessen. Rom beschuldigt Paris bis heute, mutwillig die Bombardierung Libyens vorangetrieben zu haben, was nicht nur zum Ende des italienischen Einflusses in Tripolis führte, sondern der Halbinsel bis heute einen regen Migrantenschub beschert. Für die „Populisten-Regierung“ saß der eigentliche Gegner nicht in Berlin, sondern in Paris, das bereits damals als dominante Kraft in Brüssel wahrgenommen wurde. Für Deutschland brachte die verschärfte Rivalität dagegen eine Verschnaufpause, die das Unvermeidliche jedoch nur hinauszögerte.
Nach Draghi könnten Berlin und Paris noch unangenehmere Zeiten bevorstehen
Das Einzige, worauf die Gegner des neuen französisch-italienischen Tandems spekulieren können, ist die notorische Instabilität der Regierungen in Rom. Mit Draghi bietet Italien derzeit einen bestens vernetzten Regierungschef, der dazu Gewicht in internationalen Belangen besitzt. Doch Draghis Amtszeit läuft im Frühjahr 2023 aus – und die Chancen, dass er wiedergewählt bzw. kandidiert, erscheinen gering.
Sollte es jedoch der ambitionierten Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia gelingen, ihre derzeit starken Umfragewerte in Parlamentssitze umzuwandeln, und Matteo Salvini wie Silvio Berlusconi die benötigte Mehrheit beschaffen – ein Sieg des rechten Lagers konstatieren die Umfragen seit 2019 durchgehend, nur mit jeweils wechselnden Werten für die verschiedenen Parteien des Bündnisses –, würden sich allerdings für Berlin wie Paris ganz andere Probleme ergeben. Gegen die rechtsverdrehten Nationalpopulisten (oder welche Begriffe man sich für sie auch immer einfallen lässt) könnten Deutschland und Frankreich dann wieder näher zusammenrücken. Dem deutsch-französischen Tandem stünde dann jedoch eine Koalition aus Rom, Warschau und Budapest gegenüber. Merkels Erbe in der EU-Politik macht’s möglich.