Blicken wir nun zur Beantwortung der in Teil 1 gestellten Fragen in den Verfassungsschutzbericht 2021. Da ist bereits der Einstieg interessant:
„Mit dem Beginn der Coronapandemie und der Durchsetzung staatlicher Beschränkungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Lage kam es in Deutschland zu gesellschaftlichen Diskussionen und legitimen Protestaktionen gegen diese Maßnahmen. In einigen Fällen gingen die öffentlich geäußerten Meinungen oder Aktionen von Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen jedoch über einen solchen legitimen Protest hinaus und wiesen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen auf. Die Zuordnung der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Per sonenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen zu einem der Phä nomenbereiche des Verfassungsschutzes ist in vielen Fällen nicht möglich. Das BfV hat daher im April 2021 den neuen Phänomenbereich ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘ eingerichtet.“
Als erstes lernen wir: Es hat etwas mit Corona und staatlichen Maßnahmen zu tun, welche von manchen Bürgern als willkürliche Eingriffe in ihre durch das Grundgesetz verbrieften Rechte betrachtet wurden.
Das klingt zumindest im ersten Augenblick nicht nach etwas, das wirklich juristische Relevanz auf Grundlage des Strafrechts entfalten könnte – und das auch deshalb, weil es mit Wahrnehmungen immer ein Problem gibt. Der eine nimmt sie so wahr, der andere anders. Und ob Wahrnehmungen nun tatsächlich etwas mit der realen Welt zu tun haben – nun, da empfiehlt sich schlicht die Suche nach „Hui Buh, das Schlossgespenst“ in der Videothek.
Ohnehin ist das mit dem „wahr nehmen“ allein schon deshalb ein Problem, weil es nichts anderes bedeutet, als dass etwas von einem Individuum „als für wahr genommen“ wird. Mit der viel beschworenen „Wahrheit“ muss das Wahrgenommene deshalb nicht das Geringste zu tun haben, denn es spielt sich ausschließlich im Kopf und in der Phantasie des Individuums ab.
Die Wahrnehmung von Geltung und Funktionsfähigkeit
Leider hilft uns bei der Suche nach einer möglichen Wahrheit, die sich hinter der Haldenwang-Erfindung verstecken könnte, auch die weitere Lektüre des Verfassungsschutzberichts nur wenig weiter.
„Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen dabei darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen.“
Ob diese Beeinträchtigungen nun als erheblich einzustufen sind, ist tatsächlich eine Frage der individuellen Wahrnehmung. Allerdings sollte eine „erhebliche Beeinträchtigung“ besagter Funktionen und Einrichtungen dann zu erkennen sein, wenn beispielsweise die Krankenhauslogistik oder die Wasserversorgung durch Cyber-Attacken außer Funktion gesetzt werden. Das geht dann tatsächlich deutlich über bloße Wahrnehmung hinaus – was das allerdings mit Corona zu tun haben könnte, wird durch das BfV nicht erläutert.
Die Verächtlichmachung im Speziellen und im Allgemeinen
„Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf.“
Diese Formulierung macht uns das Verständnis des Haldenwangschen Phänomens auch nicht leichter. Wie macht man beispielsweise demokratische Entscheidungsprozesse „verächtlich“? Die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes gibt mir das Recht, öffentlich jeden demokratischen Entscheidungsprozess zu kritisieren, zu bemängeln, sogar zu beschimpfen. Ich habe das Recht zu äußern, dass ich eine solche Entscheidung „Sch…“ finde. Mache ich sie damit verächtlich? Und selbst wenn: Das Strafrecht geht aus gutem Grunde davon aus, dass Beleidigungen, und als solche sind „Verächtlichmachungen“ zu verstehen, konkret auf Personen bezogen sein müssen.
Die Beurteilung, ob und wieweit solche Meinungsäußerungen irgendwas oder -wen verächtlich machen, obliegt ganz offensichtlich ausschließlich einer individuellen Wahrnehmung von Erscheinungen. Insofern erschließt sich zumindest, weshalb Haldenwang von einem „Erscheinungsbereich“ spricht.
Was nun den Aufruf zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen betrifft – da ist man fast geneigt, ein mitleidiges „Ach Gott“ zu rufen. So etwas gehört doch nicht nur im Bereich der Steuervermeidung und im Kraftfahrzeugverkehr fast schon zum guten Ton. Ob sich der Aufgerufene dann daran orientiert – das ist nun wirklich seine Privatangelegenheit, die zur Strafsache werden kann. Aber ist doch nichts, was das BfV in irgendeiner Weise irgendetwas angeht.
Die Demokratie als solche und die Agitation
„Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen.“
Hier wird es jetzt scheinbar etwas konkreter. Einmal abgesehen davon, dass sich nicht erschließt, wie man „die Demokratie als solche“ in Frage stellt, wo es doch zahllose, nicht selten sogar fundamental voneinander abweichende Demokratiedefinitionen gibt, scheint es hier nun auch um so etwas wie Majestätsbeleidigung zu gehen. Bislang galt in solchen Fällen das Strafrecht. Wenn sich jemand verächtlich gemacht fühlt, steht ihm der Weg zum Staatanwalt offen. Auch Politiker haben als Bürger diese Möglichkeit. Nicht wenige nehmen sie auch bewusst wahr. So sieht das der Rechtsstaat vor – dazu braucht es kein Bundesamt für Verfassungsschutz.
Schwieriger werden kann das jedoch mit der ständigen Agitation. Wie schützt mich als Bürger und dessen Arbeitgeber das BfV vor der ständigen Agitation mit irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Genderphilosophieinhalten und Queer-Problemen beispielsweise dann, wenn ich das von mir zwangsfinanzierte ÖRTV-Angebot wahrnehme? Gut, ich kann abschalten – und mich darüber ärgern, dass mir für mein Geld in meiner Wahrnehmung nur Mist geboten wird. Ob ich das allerdings tatsächlich beim BfV anhängig machen kann – daran habe ich meine Zweifel.
„Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Eine derartige Agitation steht im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip.“
Zudem: Ist es Aufgabe eines Verfassungsschutzes, wenn „das Vertrauen“ erschüttert wird? Muss es nicht vielmehr Aufgabe der Politiker sein, solchen Vertrauens-Erschütterungen entgegenzuwirken und sie gar nicht erst entstehen zu lassen?
Zudem bleibt Haldenwang den Nachweis schuldig, worin konkret der „Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen“ besteht. Die behauptete Agitation wird nicht näher beschrieben, sie entspringt lediglich einer nicht näher beschriebenen, als „kann“-Formel höchst fragwürdigen Wahrnehmung.
Wahrnehmungen, die schnittmengenartig zugeordnet werden
„Solche Bestrebungen werden vom Verfassungsschutz in den Blick genommen, unabhängig davon, ob die dahinterstehende ideologische Ausrichtung einem bereits bekannten extremistischen Phänomen eindeutig zuzuordnen ist. Dabei bestehen diverse Bezüge zu und ideologische Schnittmengen mit anderen Phänomenbereichen.“
Was soll man hier noch sagen? Offensichtlich agiert das BfV insgesamt umfassend und ständig auf Grundlage individueller Wahrnehmungen. Als Arbeitsbeschaffungsprogramm zumindest hat sich der neue „Phänomenbereich“ hier nun abschließend enttarnt.
Das BfV nimmt irgendetwas wahr, ordnet es nach Belieben irgendwelchen Wahrnehmungen zu, und nimmt es „in den Blick“. Und da Wahrnehmungen bei völlig unterschiedlichen Vorgängen ähnlich wahrgenommen werden, hat das Amt nun auch noch „diverse Bezüge und Schnittmengen“, die es feststellen kann. Wobei Letzteres in einer kommunikativen Massengesellschaft tatsächlich völlig normal ist. „Niemand ist eine Insel“, dichtete im frühen 17. Jahrhundert der englische Autor John Dunne. Daran hat sich nichts geändert.
Und dann wird es doch konkret(er)
Erst jetzt, nach diesen vielen und nichtssagenden Sätzen der Eigenlegitimation, findet sich etwas Konkretes, das uns vielleicht verstehen hilft, worum es dem BfV tatsächlich geht – wenn eben nicht nur um mehr Beschäftigung.
„So war das Protestspektrum immer wieder Vereinnahmungsversuchen aus dem rechtsextremistischen Milieu und aus der Szene der ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ ausgesetzt. Obwohl diese nur zum Teil erfolgreich waren, zeigten sich mit fortdauernder Pandemielage und entsprechend fortlaufend angepassten staatlichen Gegenmaßnahmen zunehmend besorgniserregende Tendenzen im Protestgeschehen. Verschwörungsmythen, häufig mit Elementen antisemitischer Ressentiments, werden in weiten Teilen der Protestszene inzwischen selbstverständlich verbreitet. Der Staat und seine Institutionen werden in ihrer Legitimität grundsätzlich infrage gestellt. Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie werden als diktatorisch bezeichnet. Auf diesem Narrativ aufbauend, wird Widerstand gegen staatliche Maßnahmen und Entscheidungen propagiert und zu Gewalt und in Einzelfällen sogar zu Mord aufgerufen.“
Fassen wir zusammen:
- Teile der Protestierenden in Sachen Corona waren „Vereinnahmungsversuchen“ von Personen ausgesetzt, die in den traditionellen Aufgabenfeldern des BfV beobachtet werden. Erfreulicherweise – und das unterscheidet die Betroffenen dann offensichtlich von jenen Öko- und Sonstwas-Protestierenden, die ständig Vereinnahmungsversuchen aus der linksradikalen Antifa ausgesetzt sind – haben sie sich zumeist als resistent erwiesen.
- Welche „besorgniserregenden Tendenzen im Protestgeschehen“ hier konkret gemeint sind, wird leider nicht verraten. Schade.
- „Verschwörungsmythen“, das haltungsgerechte Neusprech für Verschwörungstheorien, weil der Theorie-Begriff für haltungsgerechte Wissenschaft und Pseudowissenschaft vorbehalten bleiben soll, sind kein neues Phänomen. Es gibt welche, die durchaus begründete Hintergründe haben können – und es gibt welche, die ausschließlich als Dokument der Dummheit ihrer Verbreiter dienen. Der Unsinn mit den Nano-Partikel-Impfungen, der nahtlos an den Brunnenvergifter- und Kinderfresserblödsinn des Mittelalters anknüpft, gehört ohne Zweifel zu der zweiten Kategorie. Nur – ist es tatsächlich Aufgabe eines Verfassungsschutzamts, sich mit solchem geistigen Müll zu beschäftigen?
- Grundsätzlich: Auf Grundlage des Grundgesetzes hat jeder Bürger sogar das Recht, die Legitimation des Staates und seiner Institutionen in Frage zu stellen. Relevant für das BfV wird dieses erst, wenn daraus konkrete Handlungen erwachsen, die auf die Abschaffung der FDGO zielen. Beispielsweise dann, wenn eine Partei antritt, die die Abschaffung des Grundgesetzes fordert.
- Selbst der verbal-politische Kampf ist in einer funktionsfähigen, freiheitlichen Demokratie zulässig. So habe ich beispielsweise das Recht, die Legitimation des Grundgesetzes als Verfassung anzuzweifeln, solange nicht das Volk entsprechend der dort festgeschriebenen Bedingungen über die eigene Verfassung hat abstimmen können. Damit stehe ich nicht einmal außerhalb der FDGO, denn meine Kritik ziehe ich aus dem Grundgesetz selbst, dessen Vorhandensein insofern nicht angezweifelt wird. Somit richtet sich die Kritik auch nicht gegen das Grundgesetz als Grundgesetz, sondern gegen jene Institutionen, die die Vollendung des Grundgesetzwillens verhindern.
- Die Bezeichnung von staatlichen Corona-Maßnahmen als „diktatorisch“ ist allein für sich nichts anderes als eine vom Grundgesetz geschützte Meinungsäußerung. Da sie zudem auf der individuellen Wahrnehmung einer konkreten Erscheinung basiert, unterscheidet sie sich in der Qualität nicht von jenen Wahrnehmungen, mit denen das BfV die Einrichtung seines „Phänomenbereichs verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ begründet. Wahrnehmungen sind eben Wahrnehmungen – und jeder Bürger hat das Recht, aus den entsprechenden Wahrnehmungen individuelle Schlüsse zu ziehen und diese als Meinungsäußerungen zu verbreiten. Das unterscheidet ihn im Übrigen maßgeblich von staatlichen Institutionen. Sobald diese den Bereich des Tatsächlichen verlassen und sich mit „Wahrnehmungen“ beschäftigen, ist allerhöchste Vorsicht geboten.
- In Fällen, in denen tatsächlich zu Gewalt und sogar Mord aufgerufen wird, ist es eine Aufgabe von Justizbehörden und Polizei, umgehend einzuschreiten. Soweit dem BfV derartige Vorgänge zur Kenntnis gelangen, hat sie diese unmittelbar der Staatsanwaltschaft und der Polizei mitzuteilen. Denn die Strafverfolgung obliegt den zuständigen Organen – nicht dem BfV. Sollten die Strafverfolgungsbehörden Amtshilfe des BfV benötigen, ist dagegen nicht grundsätzlich etwas einzuwenden. Aber damit hat es sich auch. Zur Polizeibehörde wird das BfV erst dann, wenn es tatsächlich die Aufgabe des Staatsschutzes übernimmt. Dann ist ein Verfassungsschutz auch nicht mehr nötig, weil die Verfassung ohnehin niemanden mehr interessiert.
Haldenwang sollte sich auf sein Beamtentum besinnen
Hierin liegt das tatsächlich Erschreckende des Verfassungsschutzberichts 2021:
Dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz sich zu einem Präsidenten des Bundesamtes für Staatsschutz als Erfüllungsgehilfe einer tagesaktuellen Staatsdoktrin entwickelt, wo es doch zu den vorrangigen Aufgaben des Verfassungsschutzes auch und maßgeblich gehört, den Bürger auf Grundlage des Grundgesetzes vor dem Staat, dessen Organen und möglichen Übergriffen zu schützen – und nicht den Staat vor dem Bürger und dessen Unmut.
Wenn zudem dieses Bundesamt für Verfassungsschutz zudem als Bundesamt für Staatsschutz seine Aufgaben nicht mehr am Realen orientiert, sondern mit fiktiv wahrgenommenen Erscheinungen begründet, die als reale Vorgänge mit gefährdendem Einfluss auf die FDGO längst von den anderen Aufgabenbereichen des BfV abgedeckt werden, dann sollte für jeden liberalen Bürger und Verfassungsdemokraten gelten: Alarmstufe Rot, was diesen Verfassungsschutz und seinen Präsidenten angeht!
Es mag ein falscher Eindruck sein, aber irgendwie drängt sich der Verdacht auf, dass Haldenwang seine Arbeitsplatzbeschreibung nicht richtig gelesen hat oder etwas fragwürdig interpretiert. Nicht zuletzt ist sein Arbeitgeber immer noch der Souverän, also das Volk. Nancy Faeser, oder wie sie alles hießen, sind nur seine Vorgesetzten – nicht diejenigen, für die er seine Aufgaben wahrzunehmen hat.
Hier wäre dann tatsächlich mal der alte Spruch angesagt, der verhindern soll, dass zur parteipolitischen Neutralität verpflichtete Beamte sich zum Büttel und Erfüllungsgehilfen tagesaktueller, politischer Dogmen machen lassen: „Minister kommen und gehen – Verwaltung bleibt bestehen.“
Das Fundament des Vertrauens des Bürgers in den Staat ist nicht die Politik, sondern die Verwaltung. Sie sollte es nicht verspielen, indem sie sich für die Politik gegen den Bürger in Stellung bringt.