Der britische Autor Theodore Dalrymple erklärte einmal diejenigen zu den eigentlichen Helden, die das verbessern, was zu verbessern in ihrer Macht steht. Für diese Tugend gibt es zwei Voraussetzungen, die nicht alle erfüllen. Zum einen die Fähigkeit, die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Und zum anderen die Bereitschaft, eine bestimmte und meist begrenzte Aufgabe zu übernehmen, aber auch die Verantwortung für das mögliche Scheitern. Denn nicht jeder Verbesserungsversuch führt auch zu einem guten Ende.
Selbst wenn die allermeisten Politiker, Publizisten und sonstigen Sinnproduzenten von Dalrymples Satz wahrscheinlich nichts gehört haben, kennen sie den Zusammenhang, von dem er spricht. Es gibt jedenfalls relativ wenige Mitglieder der Funktionseliten, die erstens überlegen, wie weit ihre Fähigkeit reicht, etwas zum Besseren zu wenden, zweitens bei denjenigen, denen die Veränderungen zugutekommen soll, nachfragen, ob sie auch gewünscht ist, und die sich drittens an eine nachprüfbare Arbeit in einem kleinen begrenzten Bereich machen.
Personen, die ganzheitlich denken, sind Leitartikelschreiber des Lebens. Dass jemand, der den sogenannten systemischen Ansatz wählt, nicht erst bei anderen nachfragen kann, ob sie eine bestimmte Veränderung auch als Gewinn empfinden, versteht sich von selbst. Als besonders beleidigend empfinden es Leute mit weitreichenden Ideen, wenn sie jemand Weltverschlechterer nennt. Es gibt trotzdem gute Gründe, ihnen genau diesen Begriff anzuhängen. Nachprüfbare Verbesserungen lassen sich, wenn überhaupt, nur nach der Methode Dalrymple vornehmen. Für Veränderungen – ein deutlich größeres Feld – gilt das nicht. Das Problem besteht darin, dass Veränderungen, die nichts nachweislich verbessern, nur selten Dinge und Verhältnisse auf der gleichen Ebene ändern. Fast immer verschlechtern sie die Welt.
Dem Typus des Verschlechterers stehen heute die sozialen Medien als wichtigstes Instrument zur Verfügung. Sie verleihen ihm eine Resonanz, die er sich mit allem Geld anderer Leute nie kaufen könnte. Verschlechtern, das heißt heute, den Erregungspegel der Gesellschaft systematisch nach oben zu schieben, am besten durch die obsessive Beschäftigung mit der Privatsphäre von Millionen Menschen. Wem soll das nutzen? Darauf gibt es in diesem Text eine Antwort. Bis dahin dauert es allerdings ein bisschen.
Um die Trias aus Familienleben, Geschlechtsdingen und Religion kümmerten sich früher vor allem die Konservativen im Verein mit Kirche. Diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Familienleben, Geschlechtsdinge und Neoreligion dienen heute als Manöverfeld für die Kaste der wohlmeinenden Gesellschaftslenker, die von sich selbst annehmen, dass sie die Verhältnisse verbessern. Alle Personen, die im Folgenden als Beispiele dienen, wurden nicht wegen ihrer individuellen Bedeutung ausgewählt, sondern, weil sie den Typus und seine Techniken besonders gut repräsentieren. Etwa Kersten Artus, die auf eine lange Karriere erst als Mitglied im Weltverschlechterungsverein DKP, dann als Linksparteifunktionärin und Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft zurückblickt (an dieser Stelle ein Zeitdokument – Spiegel TV 2009, ein Beweis, dass es auch in Hamburg einmal eine erleuchtungsferne Zeit gab.)
Artus meldete sich in der Debatte um einen Aufruf von Wissenschaftlern zu Wort, die eine ihrer Meinung nach unkritische Agitation der öffentlich-rechtlichen Sender zugunsten der Transbewegung kritisiert. Diese Bewegung sieht Geschlechtsumwandlungen auch bei Kindern als absolut positives Mittel. Jeder Hinweis auf Risiken und Nebenwirkungen gilt ihr als menschenfeindlich. Artus jedenfalls verfasste in diesem Zusammenhang auf Twitter einen Kommentar, der ohne Umweg in den sehr privaten Bereich zielt.
Das, was Großeltern und Eltern mit ihren Enkeln beziehungsweise Kindern besprechen, gehört zu den intimsten Angelegenheiten überhaupt. Am Beispiel Artus lässt sich mehrerlei erklären. Zum einen, wie der Höhepunkt der Liberalität beschaffen war, der wahrscheinlich ohne jede Wendemöglichkeit hinter uns liegt: Es gab einmal eine Zeit, in der schon sehr viele Großeltern und Eltern zu ihren Kindern sagten: ‚Egal, wen du einmal liebst, es ist in Ordnung‘, und es gleichzeitig kaum Personen in Politik und Medien gab, die Familien Verhaltensvorschriften zu machen wagten, noch dazu in dem gleichen autoritären Tonfall, mit dem Priester sich vor zweihundert Jahren in die intimen Angelegenheiten ihrer Schäfchen mischten.
Manche Leser wenden an dieser Stelle womöglich ein, eine Figur wie Artus sei zu unbedeutend, um sich näher mit ihr zu befassen. Tatsächlich dürften die meisten von ihr noch nie etwas gehört haben. Und eine Artus allein könnte wenig verschlechtern. Sie gehört allerdings zu einem breiten Bündnis, das aus vielen ähnlichen Personen besteht und über öffentliche Präsenz, Geld und Macht verfügt. Ihre Anweisungen für familiäre Konversation über Geschlechtsdinge reiht sich ein in eine lange Reihe ganz ähnlicher Aufforderungen, die das Privatleben wildfremder Menschen betreffen.
Dazu gehört etwa der Ratschlag eines Zeit-Mitarbeiters, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, falls die eine falsche Partei wählen. Oder die Empfehlungen steuerfinanzierter Organisationen, wie Familienfeste am besten für politische Agitation zu nutzen sind, und der Versuch eines Zwangsgebührensenders, Kinder dazu anzustacheln, ihre Großmutter eine Umweltsau zu nennen.
Nicht nur in der Methode, auch in der Sache stehen viele andere und wichtigere an Artus‘ Seite. Etwa der Staatssekretär der Bundesregierung Sven Lehmann.
In den USA und Großbritannien liegt das auch an Keira Bell. Sie schrieb Rechtsgeschichte, als sie 2020 vor dem Obersten Gerichtshof in Großbritannien gegen die Londoner Tavistock-Klinik klagte, deren Mitarbeiter bei ihr eine Geschlechtsdysphorie diagnostizierten, als sie 14 war, also das Bedürfnis, ihr Geschlecht zu wechseln, und ihr mit 16 Pubertätsblocker verschrieben, Hormone, die den Körper daran hindern, die Geschlechtsmerkmale wie bisher weiterzuentwickeln.
Im Alter von 20 Jahren unterzog sich Bell einer Operation, die sie äußerlich zu einem jungen Mann machte – um dann festzustellen, dass sie dadurch nicht wirklich zu einem Mann geworden war, sich aber immer noch mit schweren psychischen Probleme herumschlug. Sie entschied sich, wieder als Frau zu leben (soweit das nach Entfernung der Brüste und sonstigen operativen Eingriffe möglich war), und verklagte die Klinik zusammen mit dem nationalen Gesundheitsdienst NHS dafür, ihr, einem unsicheren, psychisch instabilen Teenager nach einer kurzen oberflächlichen Beratung Pubertätsblocker empfohlen zu haben.
In einem sehr lesenswerten Text für das US-Magazin Persuasion erzählte Bell 2021 ihre Geschichte, die Biografie eines Mädchens, das unter der Trennung ihrer Eltern litt, sich ungeliebt fühlte, mit 14 in eine Depression rutschte und gleichzeitig entdeckte, dass sie sich von Mädchen angezogen fühlte. Sie lehnte aus einem ganzen Bündel von Gründen ihren weiblichen Körper ab, auch deshalb, weil sie vor der Pubertät eher jungenhaft wirkte. In der Kleinstadt nahe London, in der sie aufwuchs, fand sie niemand, der ihr sagte, dass sie im Begriff war, eine junge lesbische Frau zu werden, dass sie außerdem an psychischen Schwierigkeiten litt, und das eine von dem anderen besser trennen sollte. Dafür fand sie bei Tavistock Mediziner, die bei ihr (wie bei vielen anderen) ohne weitere Recherchen ein Leben im falschen Körper als Grund für alle Probleme diagnostizierten, die nach einer Geschlechtsumwandlung von selbst verschwinden würden. Bei Persuasion schrieb Bell:
„Aber je weiter meine Geschlechtsänderung ging, desto mehr begriff ich, dass ich kein Mann war, und nie einer sein würde. Uns wird heute erzählt, dass, wenn jemand Geschlechtsdysphorie an sich wahrnimmt, dadurch das ‚wahre‘ Selbst zum Ausdruck kommt und dass der Wunsch, das Geschlecht zu ändern, etwas Feststehendes ist. Aber das war bei mit nicht der Fall. Als ich reifer wurde, begriff ich, dass die Geschlechtsdysphorie ein Symptom meines grundsätzlichen Elends war – nicht seine Ursache. […] Ich war ein unglückliches Mädchen, das Hilfe gebraucht hätte. Stattdessen wurde ich wie der Gegenstand eines Experiments behandelt.“
Bells Klage gegen die Verabreichung von Pubertätsblockern war vor dem Obersten Gerichtshof erfolgreich, das Appellationsgericht hob die Entscheidung 2021 allerdings wieder auf. Trotzdem stieß sie eine Debatte an, die bis heute andauert.
In Deutschland veröffentlichte Alice Schwarzers Emma 2020 ein Interview mit drei jungen Frauen, die mehr oder weniger die gleiche Geschichte wie Keira Bell erzählten: psychische Probleme in der Pubertät, Ablehnung des eigenen Körpers, Interesse für das eigene Geschlecht, ohne sich darauf einen Reim machen zu können, dann die Schnelldiagnose falscher Körper durch aktivistische Berater, Hormoneinnahme und Operation. Alle drei bereuen heute ihre Geschlechtsumwandlung. Sie versuchen, wieder als Frauen zu leben.
Seit Schwarzer ein Buch über den extremen Anstieg der Geschlechtsumwandlungswünsche vor allem bei jungen Mädchen schrieb, in dem sie auch beschreibt, wie Trans-Aktivisten alle Bedenken beiseite wischen, gilt sie bei genau diesen Aktivisten als transphob und mehr oder weniger schon als reaktionäre weiße Frau.
In Spanien kam ebenfalls der Widerstand gegen das 2021 schließlich doch beschlossene Ley Trans von Feministinnen und linken Politikern, mit ganz ähnlichen Argumenten, wie Schwarzer sie vorbringt.
Neuerdings gibt es sogar Bemühungen der ganz Fortgeschrittenen, den Feminismus, für den Schwarzer steht, irgendwie mit dem Vorwurf der weißen Hautfarbe zu verkneten.
Vermutlich werden wir demnächst auch in Sendeanstalten davon hören.
In der taz nannte eine Autorin Schwarzer eine „selbsternannte Feministin“, eine nicht ganz unwitzige Formulierung angesichts der Tatsache, dass selbsternannte Leute wie Schwarzer heute tatsächlich von einem staatlich ernannten Queerbeauftragten im Staatssekretärsrang bekämpft und beleidigt werden. Die taz allerdings veröffentlichte Anfang Mai 2022 auch ein Interview mit dem Münchner Mediziner Alexander Korte, der als Fachmann für Jugendpsychiatrie zu den entschiedenen Gegnern des geplanten sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes gehört, nach dem sich Kinder demnächst schon ab 14 auch gegen den Willen der Eltern mit einem so genannten Sprechakt zum Angehörigen eines anderen Geschlechts erklären können.
Korte zählt außerdem zu den 120 Unterzeichnern des Aufrufs, der von den öffentlich-rechtlichen Anstalten fordert, auch über die Risiken pauschaler Trans-Diagnosen zu berichten, statt fast ausschließlich die Argumente der Transgender-Bewegung zu senden. „Trans“, so Korte in dem Interview, „ist offensichtlich eine neuartige Identifikationsschablone, für die es einen gesellschaftlichen Empfangsraum gibt.“ Beziehungsweise: für den ein Empfangsraum geschaffen und ständig erweitert wird. In dem Aufruf heißt es:
„Wir als Wissenschaftler wenden uns entschieden gegen die Vorstellung, dass Frauen und Männer nur soziale Konstrukte oder gefühlte Identitäten sind. Wir sehen Errungenschaften der Frauenbewegung bedroht, weil jeder Mann sich fortan durch eine Erklärung zur Frau deklarieren und in deren Schutzzonen eindringen kann. Maßnahmen zur Frauenförderung werden ebenso ausgehöhlt wie ihr Schutz vor Gewalt. Kindern wird noch vor vollendeter Geschlechtsreife während der Pubertät eine Entscheidung auferlegt, deren Folgen sie nicht überblicken können.“
Diesen Appell hatte die Welt vor wenigen Tagen in komprimierter Form veröffentlicht – und zieht seitdem ein Trommelfeuer der Beschimpfungen und Verwünschungen auf sich.
(Merkwürdigerweise gibt es keinen entsprechenden Vernichtungsfuror gegen die taz wegen des Korte-Interviews, geführt übrigens von Kaija Kutter und Jan Feddersen, Letzterer ein Freidenker im Körper eines Linken, und das offenbar ganz ohne Identitätskonflikt).
Korte weist darin wie eine ganze Reihe anderer Wissenschaftler darauf hin, dass die Trans-Welle nicht beide Geschlechter gleich betrifft, sondern weit überproportional Mädchen in der Pubertät, die der Hormone-und-Skalpell-heilen-dich-Verheißung glauben und meinen, durch ihre äußerliche Verwandlung in junge Männer alle psychischen Probleme abschütteln zu können. Und zweitens auf den quantitativen Anstieg der Fälle. In Schweden etwa nahm die Häufigkeit der Diagnose „Trans“ zwischen 2008 und 2018 bei pubertierenden Mädchen um 1500 Prozent zu.
Dort, in Deutschland, Großbritannien und anderen westlichen Ländern machen Mädchen mittlerweile drei Viertel und mehr aller Jugendlichen aus, die sich auf den Operationstisch legen. Nur der Vollständigkeit halber hier die Anmerkung, dass Korte weder das Phänomen Transsexualität bestreitet, noch in Abrede stellt, dass sich Menschen mit umgewandeltem Geschlecht wohler fühlen als vorher. Er möchte nur als Mediziner über Risiken und Nebenwirkungen sprechen, und hält genauso wie Keira Bell eine Verabreichung von Pubertätsblockern an sehr junge Menschen für falsch.
Das, was der Einfachheit halber Trans-Debatte heißt, gleicht dem Muster der Feldzüge unter den Fahnen Klima, Rassismus und Patriarchat bis ins Detail. In seiner Antwort auf den Aufruf der Wissenschaftler in der Welt, veröffentlicht ebenfalls in der Welt, geht Sven Lehmann, immerhin nicht nur Privatmann, sondern Mitglied der Bundesregierung, auf kein einziges der Argumente ein. In seinem Beitrag nennt Lehmann den Text in der Welt ein „Pamphlet“; der Aufruf, so seine Anklageschrift, „trieft vor Homo- und Transfeindlichkeit, ist wissenschaftlich nicht fundiert und arbeitet mit Fake News“.
Die Feststellung der Mediziner und Psychologen, der extreme Anstieg von Geschlechtsänderungswünschen von mehr als tausend Prozent innerhalb weniger Jahre sei ein „Trend-Thema“, erklärt Lehmann – ohne dass er eine nähere Erklärung dafür gibt – als „transfeindlich“. Als Nachweis der transfeindlichen Gesellschaft dient ihm die „deutlich erhöhte Tendenz zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten oder sogar Suizidalität“. Die Möglichkeit, dass bei vielen operativ behandelten Geschlechtsveränderten die psychischen Probleme schon vorher bestanden haben könnten, gilt ihm offenbar als dermaßen häretisch, dass er gar nicht erst darauf eingeht. Die von Keira Bell und anderen angestoßene Debatte über falsche und ideologiegetriebene Trans-Diagnosen erwähnt er mit keinem Wort. Stattdessen prügelt er auf selbstausgestanzte Pappkameraden ein. „Wer glaubt allen Ernstes, dass sich Menschen den Wechsel ihres Geschlechtseintrags oder sogar körperliche Veränderungen aus Jux und Dollerei antun?“, fragt Lehmann – tja, wen eigentlich? Kein einziger der Unterzeichner des Aufrufs behauptet das auch nur im Entferntesten.
Als nächstes vollführt er ein schon ziemlich angeranztes Kunststück der Wohlmeinenden, nämlich die Geste des Türeinrennens auf völlig freiem Feld:
„Es gibt ein Recht auf freie Meinungsäußerung – selbstverständlich. Aber es gibt kein Recht darauf, dass diese unwidersprochen bleibt.“ Als hätte irgendjemand in dem Appell verlangt, es dürfte keinen Widerspruch geben.
In seiner völlig nüchternen und sachlichen Antwort auf das Pamphlet erklärt Lehmann auch, das neue Gesetz sehe nicht vor, auch die Hormonabgabe und die Geschlechtsumwandlung von Kindern ab 14 gegen den Willen den Eltern zu regeln. Seine Formulierung ist nicht falsch, lässt allerdings etwas Wesentliches weg. Auf der Seite des Bundesfamilienministeriums schreibt Lehmann:
„Die Bundesregierung arbeitet an einem einfachen Verfahren zur Änderung von Name und Personenstand ohne pathologisierende Zwangsgutachten. In der aktuellen Diskussion über die Reform wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die Altersgrenze des vollendeten 14. Lebensjahres angemessen ist, um mit Zustimmung der Eltern einen Vornamens- und/oder Personenstandswechsel vorzunehmen. Meine Meinung ist: Viele Jugendliche wissen oft seit Jahren, einige schon seit frühester Kindheit, dass das ihnen zugewiesene Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht. Sie müssen eine Handhabe bekommen, damit sie nicht gegen ihren Willen in der Schule oder im Sportverein mit falschem Namen oder Geschlecht angesprochen werden. […] Alle medizinischen Fragen wie Hormonbehandlungen oder Operationen werden nicht gesetzlich geregelt. Dafür gibt es bereits spezielle fachärztliche Leitlinien.“
Gleichzeitig kündigt er an, die „medizinische Versorgung“ für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsänderungswunsch solle verbessert werden. Das neue Gesetz sieht also vor, dass Kinder ab 14 Jahren auch gegen den Willen der Eltern den Geschlechtsänderungswunsch verkünden und sich die entsprechenden Ausweispapiere besorgen können. Damit ist der Schritt zu Pubertätsblockern und Operation schon in einem sehr jungen Alter nicht weit. Erst recht dann, wenn staatliche Stellen, Transorganisationen und Redakteure in öffentlichen Sendern den Geschlechtswechsel als Befreiungsakt zum wahren Ich bewerben und schon die Diskussion über Risiken und Nebenwirkungen mit dem Etikett transphob versehen, auch wenn es die Eltern sind, die Einwände vorbringen.
Vor kurzem retweetete Lehmann wohlwollend eine Kurznachricht, in dem einer Mutter, die genau diese Einwände gegen die Behandlung von Minderjährigen vorgebracht hatte, die Bezeichnung „bürgerlicher Fascho“ verpasst wurde.
Leute wie Lehmann, Artus, Mitarbeiter von staatlich geförderten Organisationen und von Rundfunkanstalten bringen nicht nur einfach politische Ansichten vor. Sie dringen tief in den privaten Bereich zwischen Eltern und Kindern ein. Ihre Agitation zielt nicht mehr auf Vermittlung. Nichts soll abgewogen werden. Eigentlich geht es auch gar nicht mehr um Politik. Ihre im moralischen Wegweisungsduktus abgefassten Erklärungen tragen sämtliche Züge einer glühenden Neureligion. Andere können ihre Formeln nur wortwörtlich übernehmen. Anderenfalls bekommen sie eine Feindmarkierung.
In diesem Feldzug kommt auch ein relativ neuer Begriff der Wohlmeinenden öfter vor, nämlich lost: Von Anhängern wurde Lehmann ermahnt, er sollte am besten überhaupt nicht auf den Text in der Welt antworten, das habe die „loste“ Leserschaft des Springer-Verlags sowieso nicht verdient. Neben den Woken, den Erwachten, gibt es in dieser Aufteilung der Welt also die Losten, die Verlorenen, mit denen zu reden sich sowieso nicht lohnt. Dazwischen scheint es bestenfalls noch ein sehr schmales Terrain zu geben. Wenn überhaupt.
So sieht es übrigens auch die ARD-Anstalt MDR, die in ihrer Abteilung „MDR Wissen“ Welt und der Neuen Zürcher Zeitung vorwerfen, dass sie den Wissenschaftlern und ihrem Aufruf überhaupt „die Bühne geboten hat“.
Es sind bemerkenswerte Zeiten, in denen sogar in der taz-Redaktion mehr Pluralismus herrscht als in einer von allen zwangsweise finanzierten Rundfunkanstalt.
Die Daueragitation, vor allem der Vorstoß in den privatesten Bereich führt bei sehr vielen der Verlorenen zu einer Abwehrreaktion, die sich überhaupt nicht gegen Transsexuelle und Schwule richtet, sondern gegen den Tonfall der Missionare, der ungefähr so gut auszuhalten ist wie das Geräusch einer Kreissäge auf Blech.
Die Missionare wiederum sehen die von ihnen erzeugte Erregung und Erhitzung als Gewinn – was für sie tatsächlich zutrifft. In diesem schon weitgehend ruinierten Debattenklima fällt es ihnen kinderleicht, diese Abwehr, siehe oben, zum Beweis der überall lauernden Trans-, Schwulen- und überhaupt Menschenfeindlichkeit zu erklären, und deshalb noch mehr Beauftragtenposten, noch mehr zu gründende NGOs, noch mehr Geld und noch mehr Aufmerksamkeit für sich zu fordern. Das systematische Heraufdrehen der gesellschaftlichen Temperatur ist vor allem ein Geschäftsmodell. Für ein paar tausend Mitglieder der neuen Priesterkaste funktioniert es sehr gut, sowohl zur moralischen als auch zur materiellen Existenzaufpolsterung.
Was uns zu der anfangs gestellten Frage zurückführt: Wessen Leben verbessern Sven Lehmann, Kersten Artus, ARD-Bühnenwächter und andere Kämpfer gegen bürgerliche Faschos und alte weiße Feministinnen eigentlich? Erleichtern sie tatsächlich irgendetwas für junge Mädchen in der Pubertät, die ihren Körper ablehnen? Machen sie irgendetwas einfacher für einen 15-jährigen Jungen in einer Kleinstadt, der gerade entdeckt, dass er sich für Jungen interessiert? Schaffen sie irgendwo Raum für eine Debatte, wobei Debatte bedeutet, dass Leute mit unterschiedlichen Ansichten zivilisiert reden?
Der Unterschied zwischen ihnen und einer Keira Bell ist so augenfällig, dass es schon allergrößte Mühe kostet, ihn zu ignorieren. Bell missioniert niemanden. Ihr geht alles Glühende ab. Sie wendet sich selbstverständlich nicht dagegen, dass Erwachsene Hormone einnehmen und sich die Geschlechtsteile entfernen lassen. Sondern nur dagegen, dass schon Minderjährige von Aktivisten zu einer Entscheidung gedrängt werden, die ihr ganzes Leben betrifft. In ihren Auftritten und Interviews argumentiert Bell. Sie konzentriert sich auf ein begrenztes Gebiet. Und vermutlich macht sie damit die Welt für einige besser, ohne anderen zu schaden.
Speziell für das Selbstbewusstsein junger Schwuler dürfte übrigens kein Einzelner in Deutschland so viel getan haben wie Wolfgang Herrndorf mit seinem Jugendbuch „Tschick“, und das ganz nebenbei mit ein paar Sätzen am Ende seines Romans, sehr minimalistisch also. „Tschick“ wird wahrscheinlich auch in Milieus gelesen, die nach Ansicht der Guten und Gerechten lost sind. Damit bewirkt Herrndorf, gestorben 2013, mit seinem in 16 Sprachen übersetzten Text heute noch mehr als alle Queerbeauftragten zusammen. Und alle Großunternehmen, die jedes Jahr im Juni ihre Firmenlogos in Regenbogenfarben tunken, allerdings nur dort, wo es ihrem Geschäft nicht schadet.
Um Dalrymples Satz anzuwenden: Herrndorf hat damals verbessert, was in seiner Macht stand. Keira Bell tut es immer noch.