Tichys Einblick
Ende der Nullzins-Ära

Die EZB läuft der Inflation hinterher

Endlich hebt die Zentralbank ihre Zinsen leicht an – nach sehr langem Zögern. Der Geldwertverfall ist ihr längst entglitten.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde; erstmals seit 2011 will die Notenbank die Zinsen wieder anheben

IMAGO / ANP

Am Donnerstagnachmittag tat die EZB-Führung das, was von ihr schon lange erwartet worden war: Sie kündigte das Ende der Nullzins-Ära an, die vor sechs Jahren begann. Gleichzeitig stoppt sie demnächst ihre Anleihenkäufe, mit denen sie bis jetzt trotz Rekordinflation von rund 8 Prozent noch weiteres Geld in die Märkte pumpt. Insgesamt flossen mit dem APP-Ankaufprogramm 4,4 Billionen Euro in das Euro-Finanzsystem.

„Der EZB-Rat hat beschlossen, die Nettokäufe von Vermögenswerten im Rahmen seines Programms zum Ankauf von Vermögenswerten zum 1. Juli 2022 zu beenden“, verkündete die Zentralbank-Führung am Ende der Ratssitzung am 9. Juni. Außerdem kündigte EZB-Präsidentin Christine Lagarde an, die Bank werde in ihrer geldpolitischen Sitzung im Juli den Leitzins um 25 Basispunkte anheben, also auf 0,25 Prozent. Das gilt auch für den Einlagezins, zu dem Banken ihr Geld bei der Zentralbank parken. Er liegt derzeit bei minus 0,5 Prozent. Im September soll dann ein weiterer, in seiner Höhe noch nicht festgelegter Zinsschritt stehen. Am wahrscheinlichsten gilt eine weitere Erhöhung um 50 Basispunkte auf dann 0,75 Prozent.

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Die EZB-Führung unter Lagarde kündigte auch an, in Zukunft werde ein „allmählicher, aber nachhaltiger“ Kurs in der Zinspolitik verfolgt. Übersetzt heißt das: Auf die beiden Zinsschritte in diesem Jahr werden so schnell keine weiteren folgen. Das ergibt sich auch aus der offiziellen EZB-Inflationsschätzung: Für das Gesamtjahr 2022 rechnet sie mit 6,8 Prozent, im kommenden Jahr soll die Geldentwertung nach ihrer Prognose 3,5 Prozent und 2024 nur noch 2,1 Prozent betragen. Allerdings lag die EZB in der letzten Zeit mit ihren Inflationsschätzungen meist weit daneben: Ende 2021 beteuerten führende Ratsmitglieder noch, der Kaufkraftverlust werde nur kurz dauern. Dann kalkulierte die EZB mit einer Inflationsrate um 5 Prozent. Als sie dann im Mai 7,9 Prozent erreichte – den höchsten Stand seit Einführung der Gemeinschaftswährung – erklärten die Euro-Hüter, die Dynamik habe sie überrascht.

Mit ihrem späten Zinsschritt läuft die EZB der Inflation und den anderen Zentralbanken hinterher. Die Bank of England hob ihre Zinsen schon im Mai auf 1 Prozent, ihre nächste Sitzung steht am 16. Juni an. In zwei Schritten in diesem Jahr erhöhte auch die US-Notenbank ihre Zinsen auf 0,75 bis 1 Prozent. Ihr Ankaufsprogramm stellte sie schon vorher ein.

Auch mit einem halben Prozent Zinsen im September und einer Inflationsrate, die hoch bleiben dürfte, liegt der Realzins weiter im tief negativen Bereich. Die EZB-Zinsentscheidung hält der Präsident des ifo-Instituts Clemens Fuest für „einen richtigen Schritt, der aber zu spät kommt. Es war nicht akzeptabel, dass die EZB bei einer Inflation von acht Prozent bis heute an Negativzinsen und Anleihenkäufen festgehalten hat. Die Preissteigerungen betreffen nicht nur Energie und Lebensmittel, sie gewinnen an Breite.“ Er fordert, zur Inflationsbekämpfung sollten auch die Staatsausgaben begrenzt werden. „Die Regierungen der Euro-Länder müssen nun aufpassen“, so Fuest: „Zusätzliche Staatsschulden sind angesichts der schon durch Corona stark erhöhten Schuldenstände sowie der aktuellen Angebotsverknappung und Zinssteigerungen gefährlich.“

Auch Matthias Vollbracht, Wirtschaftsexperte des Schweizer Analyseunternehmens MediaTenor, sieht den erwarteten Zinsschritt der EZB als späte Reaktion auf eine außer Kontrolle geratene Geldentwertung. Nach seinen Daten verschlechterte sich das öffentliche Ansehen der EZB seit 2020 deutlich. „Die EZB hat ein wachsendes Glaubwürdigkeitsproblem“, meint Vollbracht. Daran werde auch die von den Märkten schon einkalkulierte leichte Zinsanhebung nichts ändern: „Ihre Führung wirkt in der Öffentlichkeit getrieben statt souverän in ihrer Entscheidung.“

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Im Euro-Raum spricht außerdem nichts dafür, dass die Politiker die Empfehlung von Fuest und anderen Ökonomen zum Maßhalten befolgen. Allein in Deutschland, bisher immer Stabilitätsgarant des Euro, nahmen Bund, Länder und Gemeinden der kurzen Zeit seit 2020 nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler 400 Milliarden Euro an neuen Schulden auf. Die Gesamtverbindlichkeiten der öffentlichen Hand belaufen sich damit auf 2,33 Billionen Euro. Dazu kommen noch 27 sogenannte Sondervermögen von insgesamt 31 Milliarden Euro, Schattenhaushalte, die nicht in der offiziellen Schuldenstatistik auftauchen. Demnächst erhöht der Nebenhaushalt von 100 Milliarden Euro für die bessere Ausstattung der Bundeswehr diese unsichtbare Zusatzverschuldung. Auf der offiziellen Seite des Haushalts gibt es trotz des Verteilungsrausches der vergangenen zwei Jahre keine Ausgabenbremse. Für 2022 plant Finanzminister Lindner 139 Milliarden Euro neue Schulden.

In anderen wichtigen Euro-Ländern liegt die Schuldenlast noch wesentlich höher. Schon vor Corona, 2019, summierten sich die Staatsschulden aller Euro-Länder auf rund 10 Billionen Euro. Ende 2022 stehen nach aktuellen Prognosen 12,7 Billionen Euro in den Büchern. Der Schuldendurchschnitt stellt nicht das Hauptproblem dar – sondern die Verteilung. Die Schuldenlast Italiens betrug im Frühjahr 2,813 Billionen Euro, gut 148 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Frankreich schossen die Staatsschulden zwischen 2019 und 2022 von 2,6 auf 3,33 Billionen Euro in die Höhe. Schon jetzt macht der Schuldendienst in Frankreichs Staatshaushalt den drittgrößten Posten aus – bei Nullzinsen.

In dieser Lage kann die EZB die Zinsen nicht auf das Niveau wie in den USA und England anheben, ohne gleichzeitig die politische Stabilität in den Schuldenländern zu gefährden – zumal der Euro-Zone auch eine Rezession droht. Die EU-Kommission senkte ihre Wachstumsprognose für 2022 von ursprünglich 4 auf nur noch 2,7 Prozent.

In den sechs Jahren der Nullzinspolitik gewöhnten sich Staatschefs, aber auch die Manager vieler ertragsschwacher Unternehmer an das billige Geld, das wie ein Opioid die Schmerzen linderte und angenehme Illusionen erzeugte. Jetzt, in der Krise, können die Banker um Lagarde nicht mehr die alte Drogendosis verabreichen – ihren Süchtigen aber auch keinen radikalen Entzug zumuten.

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