Selten hat sich die deutschsprachige Literaturkritik so schamlos zu einer Jagdgemeinschaft zusammengeschlossen wie im Fall Tellkamp mit den Verrissen seines neuen Romans „Der Schlaf in den Uhren“. So freimütig, dass der Tagesspiegel ausrief: „Wird das Buch trotz schlechter Kritiken ein Bestseller?“ Übersetzt: Ist es tot, das Biest?
Zugegeben, es muss eine frustrierende Erfahrung gewesen sein, diesen wuchtigen Roman-Brocken, der da in unserem fantasiearmen Flachland steht wie der Monolith aus Kubriks „Odyssee im Weltraum“, nach „Stellen“ zu durchblättern und das unter Zeitdruck, schließlich will man der/die erste sein, der/die Meldung erstattet… und nichts findet, rein GARNICHTS auf 904 Seiten, nicht eine Stelle, an der man die Zielperson der Fremdenfeindlichkeit etc. überführen könnte, und also schließlich doch wieder zurück muss zu jenem einzigen Satz in der Diskussion mit Durs Grünbein, in dem er die vorwiegend wirtschaftlichen Interessen der Syrien-Flüchtlinge thematisiert hat.
Also, liebe Freunde der italienischen Oper, findet euch ab mit einem Meisterwerk, einer vielarmigen erzählerischen Krake, die die Leser nicht mehr loslassen wird in dieser Mischung aus Bildungsroman, Fantasy und Slapstik.
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle: Diesmal war es die frisch bestallte Feuilletonchefin der FAS, also noch unter Bewährungsdruck, die die Jagdgemeinschaft anführen und unbedingt den Kalauer loswerden wollte, dass sich nicht hinter jedem Gedankenstrich auch ein Gedanke verberge. Im „Spiegel“ signalisierte schon das Wörtchen „rechts“ im Vorspann, dass man diesen Roman als Machwerk eines Abweichlers mit der Zange direkt in die Tonne zu befördern habe. Die NZZ behauptet einfach, der Roman sei Ressentimentgeladen und schlecht geschrieben.
Allerdings hätte es dieses Manövers nicht bedurft, denn auch dem neuen Roman bescheinigt er „Könnerschaft“, und er zeigt sich, aufgemerkt NZZ, „überwältigt vom pochenden Rhythmus dieser Sprache und von ihren Bildwelten“; mit Recht bewirbt der Verlag Tellkamps Roman daher mit einem Satz aus dessen Rezension: „Dass Tellkamp ein fantastischer Stilist ist, ein Schriftsteller, der in wenigen Sätzen eine ganze Welt zum Leuchten bringen kann, zeigt sich auf den 900 Seiten…“ Wie furchtbar muss es aber sein, das ästhetisches Bilanz-Urteil mit politischen Erwägungen und neidischen Konkurrenten und Vorgesetzten abstimmen zu müssen, dass selbst der Verleger sich einschaltete, denn er fährt fort: „Nur, und das muss man tragisch nennen, werden diese funkelnden Erzählpassagen eingerahmt von der Karikatur einer Verschwörungstheorie, womit sie schonungslos entwertet werden.“
Aber verehrte Kollegen: Die Verschwörungstheorie ist doch der Witz an der Sache! Sie ist prächtig ausgebaut, unfassbar komisch, sie ist in den Stolln (sächsische Schreibweise) der Kohleninsel gehauen und in unsere Wachträume, sie hat Verbindungen zur „Sicherheit“, zu allen möglichen Behörden, und vor allem: sie erinnert an allergrößte und anerkannte postmoderne Vorgänger wie Thomas Pynchons Meilenstein „V.“ mit seinen vielfach verschlungenen Erzählsträngen und der paranoiden Suche nach eben jenem „V.“, die der Motor des Romans ist mit all seinen Episoden – wer könnte die des Priesters in der Kanalisation Manhattans, der zu blinden Albino-Krokodilen predigt, je aus dem Kopf kriegen!
Sie wird nun ersetzt von einigen aus Tellkamps Romanmonster mit seiner „Tausendundeinenacht“-Behörde, zum Beispiel der, in der eine ausgehungerte Armeeeinheit im Nachtfaltermuseum die größeren Exponate vertilgt.
Dieses Romanwunder beginnt mitten im Satz, im August 2015, der Schlüsselzeit der Erzählung, als ob gerade dort im Rauschen der Geschichte ein klarer Sender gefunden wurde, und es beginnt mit einer Verballhornung des Johannesevangeliums: “… Er ist das Wort, und das Wort ist bei Ihm, der alles sieht und hört, nichts bleibt ihm verborgen. Wie uns. Wir sind die Mitarbeiter des Systems…“. Ein wenig später wird der Erzähler vorgestellt: „Ich: Fabian Hoffmann, Jahrgang 1968, aus Dresden, Filmvorführer, Dissident, Angehöriger der Novalisklasse der Kohleninsel, Chronist. Der im Dezember 1989 zum ersten Mal den Decknamen »Nemo« auf einem Blatt Papier sah und noch in der Nacht seiner letzten Vorführung im Urania-Kino beschloß, »Nemo« zu folgen, auch wenn das bedeuten würde, in die Kohleninsel einzutreten.“
Ja, es tropft und nässt und rieselt hier im Stolln wie in Ridley Scotts „Blade Runner“, diesem merkwürdigen optischen Hybrid aus Industriezeitalter und Science Fiction. In unserem Fall: Fabian hantiert nicht mit Handys sondern mit Telefonen aus Bakelit und mit Wählscheiben; eines davon, gegen Ende, steht wie die Telefonzelle von „Dr. Who“, der längsten Science-Fiction-Serie der TV-Geschichte, in einer unterirdischen S-Bahn-Station und ist mit Reichsgroschen zu füttern.
Hier unten, auf der Kohleninsel, geht es um den Ursprung der „Meinungsmanipulation“, um das Erstellen von Narrativen, Tellkamp gräbt, er erzählt „tellurisch“, also in historischen und geologischen Schichten und Ablagerungen, wie Andreas Platthaus von der FAZ in seiner sehr klugen und rühmenden Kritik feststellt.
Allen Mitarbeitern der trevischen Nachrichtenagentur, die die Presseorgane des Landes speist, den Spiegel, der hier die „Wahrheit“ heißt und vom alten Brandstein geführt wurde, oder die Südtrevische Zeitung, die „SZ“, wird folgende Formel vorgelesen: „Nach unserer Auffassung hängt der Erfolg einer Demokratie von einer fundierten öffentlichen Meinung ab; die Zeitung soll … dazu beitragen, daß eine fundierte öffentliche Meinung geschaffen und erhalten werden kann.«
Selbstverständlich bestimmt die Kanzlerin, welche öffentliche Meinung „fundiert“ ist.
Noch mal zur reizvollen Verschwörungstheorie, dass nicht der Westen Deutschlands den Osten übernommen hat, sondern dass es umgekehrt war. Ab August 2015 mit dem verordneten Rausch der Willkommenskultur wurden für den Westen ungewohnte Strukturen sichtbar, sie wurden im Osten schneller wiedererkannt, wie der Schulterschluss zwischen Regierung und Einheitspresse und Blockparteien und „Kulturschaffenden“ mit ihren Ergebenheitsadressen, mit Diffamierung und Ausspähung der einzigen Oppositionspartei durch den Inlandsgeheimdienst, dem Einprügeln auf Dissidenten und der Annullierung von Wahlen, weil das Ergebnis nicht gefällt, mit der verbreiteten Angst, die eigene Meinung zu sagen und vor allem dem Einschwören auf ein Endziel: dem Verschwinden der Nation in einem globalistischen Ungefähr, das wie ein blasser Widerhall der historisch ebenso verfehlten sozialistischen Internationale wirken könnte.
Wer den Roman zur Hand nimmt, um darin zu lesen, statt ihn – dem Comment gehorchend – abzuservieren, wird seine hellste Freude haben an dem Einfallsreichtum und dem oft überbordenden Humor. Etwa wenn ein Zwangsjacken-Maßschneider vorgestellt wird, der verständig über sein Handwerk spricht, zum Beispiel die Notwendigkeit eines unteren Haltegurts. Oder wenn die in unseren Tagen der politisch gewollten Sprachverhunzungen wundersame Lektorats-Arbeit am Wort vorgeführt wird, mit einem Spezialisten und Liebhaber der Vorsilben „un-“ und „ver-“. Natürlich gibt es auch einen Giftschrank mit den Werken von Ernst Jünger, gesichert „wie waffenfähiges Plutonium“.
Großartig die Rückblenden ins Chaos auf der Wiese vor der deutschen Botschaft in Prag 1989, auch auf all die Traumtänzer und linken Quasselstrippen des Dritten Weges, der Forum-Wirrwarr, die Westgrünen und die Ostbärte und die Frage, wer mit dem Kaffeekochen dran ist und der (vergebliche) Versuch der tränennassen Grünen Rotraut, „die Anne“ mal ganz doll in die Arme zu nehmen.
Es geht hinab in die Geschichte, ad fontes, da sind der Alte aus Rhöndorf und der dicke Wirtschaftswunderkanzler, dann die Stille in Wehners Büro mit Karl Wienand, seinem Mann für Schmutzarbeit: “Das Knarren des Wehnerschen Stuhls, des Fußbodens, auf dem sich die Gewichte verlagern. Wienand schwitzt. Er tupft sich die Stirn, den Hals mit einem Tuch ab. Wenn man so lange schweigt und angeschwiegen wird, steigen die tollsten Dinge aus den Geheimkammern…“.
Fabian arbeitet sich durch die Labyrinthe der deutschen Geschichte, unterbrochen von den Jingles der Wirtschaftswunderwerbung „Onko Kaffee Gold mit Glücksklee-Milch. Ein guter Start zu glücklicher Wiegenzeit – Penaten“. Ganz wunderbar, wie Augsteins Spruch „Sagen, was ist“ im Spiegel-Gebäude an der Ericus-Spitze (hier Siegesspitze) für die Nach-Relotius-Generation umformuliert wird; jetzt heißt es dort „Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn.“
Zu erwähnen wäre noch, dass selbstverständlich alles frei erfunden ist und „alle Personen mit tatsächlich existierenden Menschen höchstens soviel gemein haben wie eine Skulptur mit dem Bildhauerton“, und alles in einem Stadt-Staat namens Treva spielt, einer Frühbezeichnung für Hamburg, das wiederum Ähnlichkeiten mit Dresden und Berlin aufweist.
Wie es sich gehört, wird ähnlich wie im „Herrn der Ringe“ eine Skizze dieses mythischen Ortes in den inneren Buchdeckel eingezeichnet und im Anhang ein Personenregister angelegt, das die Beziehungen der Familien, der Hoffmanns und der Rohdes, der Delamottes und der „Unsrigen“ aufzeichnet, sowie die absurden Organigramme der geheimnisvollen „Sicherheit“, was der Treva-Forschung durch die Leserschaft und ihren Dechiffrierungsarbeiten in Zukunft mächtig auf die Sprünge helfen wird.
Denn „Der Schlaf in den Uhren“ ist wie die Ringe-Trilogie auf drei Bände angelegt, dieser hier nennt sich Archipelagus 1, weitere Archipele werden folgen.
Wie schön, zu erleben, dass Fantasie und Humor, Tanz und Wahnsinn und unerschrockener Oppositionsgeist in die Gegenwartsliteratur zurückgekehrt sind, und dass sich die Befürchtungen des Tagesspiegel bewahrheitet haben – trotz all der „schlechten Kritiken“ ist Tellkamps Romansensation gleich in der ersten Woche von ganz weit außen auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste gesprungen.
Uwe Tellkamp, Der Schlaf in den Uhren. Archipelagus I. Roman. Suhrkamp, Hardcover mit Schutzumschlag, 904 Seiten, 32,00 €.
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