In diesen Tagen verabschieden die Bürger eine der großen Mythen über die Deutschen. Nämlich, dass sie besonders inflationssensibel seien. Wäre dies wirklich so, müssten sie zu Zehntausenden auf der Straße stehen und gegen eine Regierung protestieren, die fast acht Prozent Inflation zulässt. Vorab: Je nach Lebensumständen kann die Teuerungsrate auch bei 15 Prozent oder noch mehr liegen.
Zunächst zu den Fakten. Inflation bedeutet Anstieg der Preise über einen definierten Zeitraum, überlicherweise monatlich bzw. jährlich. Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt eine Teuerung von etwas weniger als zwei Prozent an. Ihr Argument: Damit signalisiert die Zentralbank die Verpflichtung, zur Vermeidung von Deflationsrisiken für eine ausreichende Sicherheitsmarge zu sorgen. Deflation ist das Gegenteil von Inflation, also der Prozess der stetigen Preissenkung. Die EZB sieht in einer Deflation die größte Gefahr für den Euro.
Schuldner profitieren von hoher Inflation
Entgegen dieser Logik gibt es zwei Arten von Gegenargumenten. Für die Ökonomen der Österreichischen Schule gibt es keinen Anlass zur Sorge, wenn die Preise deflationieren. Im Gegenteil: Eine stete Preissenkung, so die Anhänger dieser Denkrichtung, sei Ausdruck einer steigenden Produktivität und kündige ein höheres Wirtschaftswachstum an.
Verlierer in diesen Tagen sind die Verbraucher. Sie spüren die Preissteigerung sofort. Und nicht erst seit gestern. Zwar lag die offiziell vom Statistischen Bundesamt (Destatis) erhobene Teuerungsrate vor nicht allzu langer Zeit noch bei etwas mehr als zwei Prozent. Dennoch lag und liegt die individuelle Inflation oft höher, was mit der Zusammensetzung des Warenkorbs, die die Bemessungsgrundlage für die Berechnung darstellt, zu tun hat.
Geringe Einkommen als Verlierer Nummer Eins
Mit dem Inflationsrechner von Destatis kann sich jeder seine eigene, persönliche Inflation berechnen. Das Ergebnis ist oftmals erschütternd und hat mit den offiziellen 7,9 Prozent für den Monat Mai wenig zu tun. So unterstellt der offizielle Warenkorb dem Bürger bei Konsumausgaben von 1000 Euro eine Nettokaltmiete von 196 Euro und 97 Euro Ausgaben für Nahrungsmittel. Dass diese Zahlen zumindest in den meisten Ballungsräumen fernab jeder Lebenswirklichkeit sind, ist offensichtlich.
Beleuchtet man die individuellen Teuerungsraten, so fällt auf, dass geringe Einkommen überdurchschnittlich stark belastet werden, was naheliegend ist. Ärmere Leute wohnen häufig nicht im Wohneigentum, sondern zur Miete. Diese sind, gerade in Ballungsräumen in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch völlig verfehlte Politik, gestiegen.
Aber auch Rentner und Studenten werden überdurchschnittlich belastet. Zwar sollen laut Bundessozialminister Hubertus Heil die Renten angepasst werden, jedoch dürfte dies nicht mehr als Makulatur sein. Statt auf eine neue Sozialleistung zu setzen, Stichwort Klimageld, muss die Regierung jetzt handeln und die Abgaben und Steuern massiv senken. Und zu den Studenten: Immerhin soll das Bafög erhöht werden, was aber mehr als die Hälfte aller Kommilitonen nicht betrifft, da diese gar kein Bafög erhalten. Hier trifft die Inflation vor allem die Eltern, die ihre Kinder unterstützen.
Politik muss ihr Mandat ernst nehmen
Die 7,9 Prozent Inflation sind also eher eine optimistische Annahme. Je nach individueller Lebenssituation kommen auch Zahlen von 15 bis 20 Prozent zum Vorschein. Keine einzige Simulation, die ich durchspielte, blieb im einstelligen Bereich.
Bleibt das aus, und bleiben die Inflationsraten so hoch, könnte es sein, dass die Bürger aus ihrer gegenwärtigen Schockstarre erwachen und die Politik über ihre Inflationssensibilität noch eines Besseren belegen.