Das polnische Parlament hat vor einigen Tagen die Abschaffung der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof des Landes beschlossen. Seit Jahren wirft die EU-Kommission der Regierung in Warschau Verstöße gegen „rechtsstaatliche“ Prinzipien vor. Außerdem blockierte Brüssel die Corona-Hilfen für das Land. Die deutschsprachigen Medien lassen erwartungsgemäß nicht locker. Nachdem Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki einlenkte, verfielen sie zunächst in eine Schockstarre und anschließend lokalisierten sie neue „Löcher“ im Gewebe der polnischen Demokratie.
Im letzten Jahr hatte der EuGH geurteilt, dass die Disziplinarkammer nicht alle Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet. In die gleiche Kerbe schlugen anschließend die westeuropäischen Redakteure. Dabei hat es weder in Brüssel noch in Straßburg bisher eine breite, systematische Diskussion über das Herzstück der polnischen Justizreform gegeben. Polnische Rechtsexperten und Historiker halten sie ohnehin für überfällig und weisen auf die unerwünschten politischen Nebenwirkungen des im Jahr 1989 eingeleiteten, aber immer noch unvollendeten Wandlungsprozesses hin. Der Streit über den am Runden Tisch ausgehandelten Systemübergang hält bis heute an. Für die linksliberale Bürgerplattform (PO) und das postkommunistische Linksbündnis (SLD) ebnete er den Weg zur „zivilisatorischen Rückkehr“ Polens nach Europa. Aus der Sicht der Konservativen hingegen ist sein Zäsurcharakter eher zweifelhaft. Fest steht: Wer die damaligen Ereignisse im Blick hat, muss von den heutigen Fehden in Warschau und Brüssel nicht überrascht werden.
Michniks Lagebeurteilung war eindeutig: Jeder, der die Verbrüderung mit den einstigen Tätern ablehne, sei „unchristlich“ und unfähig, dem „Zeitgeist“ zu folgen. Wenn ältere Polen heute dem PO-Chef Donald Tusk zuhören, der an die Postkommunisten appelliert, gemeinsam gegen die PiS-Regierung vorzugehen, müssen sie sich unweigerlich an die Ereignisse zwischen 1989 und 1992 erinnern. Anstatt die Machtpositionen der von Moskau gesteuerten Rädelsführer rasch und konsequent zu demontieren, handelte die linksliberale Fraktion der Solidarność mit ihnen einen Pakt aus, der die alten Strukturen in der Justiz (!), Wirtschaft und Medienlandschaft auf Jahre zementiert hatte. Und wenn jemand etwas dagegen hatte, wurde in der „Gazeta Wyborcza“ kurzerhand als „antieuropäisch“ verschmäht und an den Rand des „Sagbaren“ gedrängt. Diese dominanten Diskursstrategien und Konfliktlinien überdauerten teilweise bis in die jüngste Vergangenheit. Alle vorherigen Transformationsversuche schlugen fehl oder scheiterten an den Status-quo-Bewahrern, die an längeren Machthebeln saßen. Während in anderen ehemaligen Ostblockstaaten der Neubeginn gelang, mussten die Polen eine Restitution des überholten Systems über sich ergehen lassen. Die Kaczyński-Brüder sind bereits 2005 mit dem Anspruch angetreten, eine Veränderung herbeizuführen. Die Proklamation einer „Vierten Republik“ sollte dem aufkeimenden Oligarchentum ein Ende setzen. Der mediale Shitstorm und die Invektiven der linken Wendegewinner ließen nicht lange auf sich warten.
Indessen wurde schon vor 30 Jahren schon ein Versuch unternommen, die unvollendete antikommunistische Revolution in Polen abzuschließen. Die von dem 2018 verstorbenen Rechtsanwalt Jan Olszewski angeführte Regierung hatte entscheidende Reformen initiiert, wurde jedoch nach nur sechs Monaten zu Fall gebracht. Die historischen Ereignisse von 1992 sind eine unverheilte Narbe geblieben, an der das linke Lager bis heute ständig kratzt. Der Konflikt der Deutungen hat sich in den letzten Jahren zugespitzt und ist zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Polarisierung der polnischen Gesellschaft geworden, die ebenso zu zahllosen Missverständnissen in den Beziehungen mit dem Westen führt.
War das Jahr 1989 für die tonangebenden Eliten um Michnik und Kuroń der Höhepunkt der „Demokratisierung“ Polens, markierte es für die Protagonisten des Bündnisses Porozumienie Centrum einen Paktschluss mit dem Teufel, der den Ausverkauf der verstaatlichten Wirtschaft besiegelte. Dies alles muss man sich vergegenwärtigen, wenn man auch die Bedeutung der heutigen Justizreform ermessen will. Erst jetzt weicht die einseitig positive Beurteilung des Runden Tisches und der Parlamentswahlen vom Juni 1989 einer differenzierten Betrachtungsweise. Polnische Wähler erkennen, dass einige ihrer „Helden“ von damals nicht nur kommunistische Verbrecher von anrüchigen Eigenschaften bereinigen, sondern sie auch ideologisch und politisch in das neue System zu integrieren wollten. So blieben wichtige Schlüsselbereiche des öffentlichen Lebens weiterhin von der „roten Seuche“ infiziert. Man sei nun „auf Europa ausgerichtet“, beteuerte Adam Michnik. Nur waren die nachwirkenden kulturellen Muster sowjetischer Fremdherrschaft alles andere als „europäisch“.
Die Konservativen messen dem 4. Juni 1989 (dem offiziellen Datum der ersten „demokratischen“ Wahlen) folgerichtig keine große Bedeutung bei, weil sie schlichtweg nicht „frei“ waren. Stattdessen erinnern sie an den 4. Juni 1992, an dem die von Olszewski angeführte Minderheitsregierung im Rahmen einer turbulenten Nachtsitzung im Sejm per Misstrauensvotum gestürzt wurde. Was war passiert? Zuvor haben einige Kabinettsmitglieder angekündigt, die kommunistische Vergangenheit einiger Parlamentarier zu enthüllen, die von ihnen selbst vorher sorgsam „ausgespart“ wurde. Erschrocken wirkte auch der damalige Präsident Lech Wałęsa, der als Werftarbeiter wohl unter dem Tarnnamen „Bolek“ mit den Machthabern kollaboriert hatte. An den nächtlichen Putschplänen vom Juni 1992, die den Reformen der Olszewski-Regierung entgegenwirken sollten, war ebenfalls ein junger Abgeordneter namens Donald Tusk beteiligt.
Polens Ministerpräsident Jan Olszewski wollte nicht nur das Monopol der Postkommunisten durchbrechen, sondern auch deren ominöse Seilschaften mit Russland zerreißen. Den Lustrationsversuchen gingen Unstimmigkeiten zwischen ihm und dem Staatspräsidenten voran. Der historisch versierte Premier erkannte die lauernden Gefahren und forderte von Wałęsa den sofortigen Abzug der in Polen stationierten russischen Soldaten. Zudem setzte sich Olszewski für ein beschleunigtes NATO-Beitrittsverfahren ein. Unterdessen haben einige zweifelhafte Oppositionsführer den polnischen Unabhängigkeitskampf auf der Zielgeraden sabotiert und sich auf dem Rücken von Millionen von Solidarność-Anhängern die „Sahne“ von der politischen Torte gekratzt.
Dabei haben sich andere Solidarność-Helden, wie etwa Andrzej Gwiazda und Krzysztof Wyszkowski, bereits vor dem Runden Tisch gegen jegliche Verhandlungen mit den Kommunisten positioniert. Schon im August 1988, als Wałęsa mit Kiszczak im Warschauer Villenvorort Magdalenka „vodkaseelenreiche“ Abende verlebte, erkannten sie, dass zweifelhafte Personen an die Macht kommen wollen, die sich als unfähig erwiesen, die Werte und Würde polnischer Durchschnittsbürger zu verteidigen. Die Festigung der Machtposition durch die Anbiederung an einen Hegemonen erschien ihnen zutiefst abscheulich.
Weshalb konnte denn die Olszewski-Regierung nicht länger persistieren, wo sie doch an den Wahlurnen von vielen Polen im Amt bestätigt wurde? Das im Dezember 1991 gebildete Kabinett hatte keine Mehrheiten im Sejm. Als im Juni 1992 eine Liste mit vermeintlichen Mitarbeitern des kommunistischen Machtapparats im Parlament kursierte, auf der auch Lech Wałęsa figurierte, haben 65 Abgeordnete einen Misstrauensantrag gestellt, um eine Lustration zu unterbinden. Die einstigen Zuträger waren natürlich nicht sonderlich an der Enthüllung ihres plötzlichen „Karrierewandels“ interessiert, auch wenn sie es nicht zugaben. Stattdessen redeten sie wirres Zeug von einer „in die Zukunft ausgerichteten“ Politik. Sie vermieden das Eingeständnis von Irrtümern. Sie wussten, dass es unangenehm wäre, nicht länger Haltbares öffentlich zu verteidigen. Leider deckten sich damals parteiübergreifend weit verbreitete Wünsche, die eigenen Fehler vergessen zu machen. Unbestritten ist aber, dass aufgrund des Regierungssturzes die Sach- und Personalbestände des alten Systems überdauert haben. Man hat sich weder von den ehemaligen Machthabern distanziert noch durch geeignete Personalentscheidungen zumindest einen solchen Eindruck erzeugt.
Die während der Regierungszeit Jan Olszewskis zutage tretende Wahrheit über das Ausmaß der Vergehen einiger Politiker in der Volksrepublik erschütterte die polnische Öffentlichkeit. Doch das Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung wurde durch die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten rasch in den Hintergrund gedrängt. Olszewski stieß im Sejm nicht nur auf eine ungünstige politische Konstellation mit einer Vielzahl an kaum zu überblickenden Splitterparteien. Es ließ sich obendrein ein ganzes Spektrum an „Verdrängungspraktiken“ konstatieren, die von Komplizität begleitet wurden und denen nur Präsident Lech Wałęsa ein Ende zu setzen vermochte. Dieser war allerdings aus bekannten Gründen nicht darauf erpicht, seine Biografie durchleuchten zu lassen. Dabei gab es vor 30 Jahren einen kurzen Augenblick, in dem der frühere Solidarność-Anführer seine historische Position retten konnte. Er gab zu, dass es in der Vergangenheit zu einigen (auch schriftlich fixierten) Loyalitätsbekundungen gegenüber dem kommunistischen Sicherheitsdienst kam. Wäre er bei dieser Version geblieben, hätten ihm die Polen vermutlich viel verziehen. Doch als Wałęsa erfuhr, dass die Umsturzpläne im Sejm eine Mehrheit hätten und Olszewski bald entmachtet wird, zog er auf Drängen seines Assistenten Mieczysław Wachowski die erste Erklärung zurück und behauptete fortan, nie etwas unterschrieben zu haben. Bezeichnend ist seitdem seine unverkennbare Aggression, mit der er bis heute jegliche Schuld von sich weist.
Jan Olszewski wurde nach dem Putsch im Juni 1992 von einem gewissen Waldemar Pawlak abgelöst, der noch Anfang Februar 2022 in einem Interview beteuerte, Russland sei ein „aufrichtiger und gewissenhafter Gaslieferant“. Bis vor kurzem waren „gute“ Beziehungen zu Russland ein identitätsstiftendes Mobilisierungsthema für viele Anhänger seiner Bauernpartei PSL. Vor den absehbaren Folgen einer solchen Politik haben Kaczyński und Olszewski permanent gewarnt. Es ist zwar bedauerlich, doch erst nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine darf man so etwas sagen, ohne gleich als „Rechtspopulist“ aus Medien und öffentlichen Diskursen verbannt zu werden.
Dies alles erzeugt auch eine Hellsichtigkeit für die Konturen der politischen Gegenwart. Viele Polen klammern sich immer noch an die Hoffnung, dass die unvollendete antikommunistische Revolution irgendwann ein glückliches Finale findet. Bis dahin sollten wir uns daran erinnern, dass das Kabinett von Jan Olszewski die erste freie polnische Regierung seit 1938 war. Sie hat einen Haushalt verabschiedet und erste wirkungsvolle Ansätze zur Entrussifizierung des Militärischen Informationsdienstes (WSI) entwickelt. In der Orientierungslosigkeit und Trägheit einiger Politiker sah Jan Olszewski die größten Gefahren und Anzeichen der Entfremdung von der eigenen Geschichte. Der Putsch von 1992 wurde nicht nur dadurch begünstigt, dass die Olszewski-Regierung aus fünf Parteien bestand, die fortwährend aus dem Chor ausscheren konnten. Die Frontbildung des linksliberalen und postkommunistischen Lagers dauert bis heute an und kann ebenso immensen Schaden verursachen, wenn sich Konservative im Sejm einer absoluten Mehrheit erfreuen. Nur, dass die „nächtlichen Putschpläne“ heute nicht mehr in Warschau, sondern in Brüssel geschmiedet werden.
Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks