Urteile des Bundesverfassungsgerichts habe signalwirkenden Charakter. Sie mahnen, legen nah und zwingen die Politik, Dinge zu ändern. Doch so wie Papier geduldig ist, haben politische Prozesse die unangenehme Eigenschaft der Trägheit in ihrer Umsetzung. Manchmal braucht es mehrere Urteile in mehreren Jahrzehnten.
Am Mittwoch, den 25. Mai, hat das höchste deutsche Gericht beschlossen, dass Eltern mit mehreren Kindern bei der gesetzlichen Pflegeversicherung besser gestellt werden als Kinderlose und Familien mit weniger Nachwuchs. Die Beitragssätze müssten spätestens bis Ende Juli 2023 angepasst werden, entschieden die Karlsruher Richter.
Bereits vor 30 Jahren war das Problem bekannt
Der Wille des Bundesverfassungsgerichts, diese Ungleichbehandlung kompensieren zu wollen, ist alles andere als neu. Bereits 1992 hatten die Karlsruher Richter zugunsten der Trümmerfrau Rosa Rees entschieden. Die Dame hatte neun Kinder großgezogen, die monatlich insgesamt rund 8.500 Mark in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlten, während sie selbst jeden Monat eine kleine Rente in Höhe von 346 Mark erhielt.
Dazu sagte der Vorsitzende des Familienbundes der Katholiken Stefan Becker: „Dieser Fall veranschaulicht die Ungerechtigkeit eines Rentensystems, das die Kosten der Alterssicherung sozialisiert, aber die Lasten der Kindererziehung privatisiert. Für die kostenaufwendige Erziehungsleistung, die der Rentenversicherung pro Kind ein Plus von durchschnittlich 77.000 Euro beschert, erhält derzeit ein Elternteil eine Rentenerhöhung von nicht einmal 100 Euro. Und bei den Rentenversicherungsbeiträgen wird das Familieneinkommen grundsätzlich in voller Höhe mit dem vollen Beitragssatz herangezogen. Dass Eltern auch bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet werden müssen, hat das Verfassungsgericht in Anknüpfung an das Trümmerfrauenurteil ausdrücklich festgestellt.“
Das Problem ist ein strukturelles
Doch auf der anderen Seite muss die Frage erlaubt sein, inwieweit das umlagefinanzierte System überhaupt noch tragfähig ist. Zwar sind Entlastungen für kinderreiche Familien logisch und emotional nachvollziehbar, die Realität sieht jedoch anders aus. Pro Familie werden rund 1,5 Kinder geboren. Was in den Babyboomerjahren der Schlüssel zu properen Renten schien, entwickelte sich spätestens ab den Nullerjahren zum Problem. Das drückt sich auch im Rentenzuschuss aus. Knapp 100 Milliarden Euro musste der Steuerzahler 2021 besteuern. Die Tendenz kennt hier nur eine Richtung: Nach oben.
Anders ausgedrückt: 30 Prozent des Leistungsumfangs kommt vom Bundeshaushalt. Der Rentenversicherungsbeitrag von 18,6 Prozent des Bruttolohns, den sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen, reichen nicht aus. Implizit ist also die Aufwendung der Bürger, um das Umlagesystem am Laufen zu halten, ungleich höher. Man merkt es nur nicht, weil der Bundeszuschuss nicht auf dem Lohnzettel vermerkt ist.
Dennoch hat der Richterspruch vom Bundesverfassungsgericht im Kern einen Punkt getroffen. Familien dürfen nicht noch dafür bestraft werden, dass sie kinderreich sind. Doch ob die Lösung im Umlagesystem liegt, darf bezweifelt werden. Jedoch ist aktuell kein relevanter Politiker in Amt und Würden, der sich an das Thema Rente ernsthaft und nachhaltig heranwagt.