Es muss nicht wiederholt werden: Putins ursprünglich geplanter schneller und großer Wurf bei der Übernahme der Ukraine ist gescheitert. Nach unerwartet hohen Verlusten bei Mensch und Material kam es aufgrund der Nachschubproblematik zum Rückzug aus den zentralen Regionen bei Kiew. Die Gebiete um die zweitgrößte Stadt Charkiv konnten von der Ukraine mühsam befreit und der Vormarsch auf die Hafenstadt Odessa gestoppt werden. Vorerst. Denn dass der russische Aggressor von seinem imperialistischen Ziel der Vernichtung eines unabhängigen Staates Ukraine absieht, erscheint unwahrscheinlich. Das taktische Vorgehen hat sich geändert – nichts jedoch am strategischen Ziel.
Mit den so verstärkten Einheiten wollte Militärchef Gerassimow in der Ostukraine einen großen Kessel bilden, in dem ein wesentlicher Teil der ukrainischen Armee von der Hauptmacht abgetrennt und so vernichtet werden sollte. Doch auch das scheiterte am Widerstand der Ukrainer, weshalb der zu bildende Kessel kontinuierlich schrumpfte. Nichtsdestotrotz deutet sich an, dass die verstärkten russischen Einheiten in der Lage sein werden, zumindest einen abgespeckten Kessel zu schaffen und die dort eingegrabenen Einheiten auszuschalten. Damit hätte Putin zumindest ein Etappenziel erreicht und die weitestgehende Kontrolle über die Provinzen Luhansk und Donezk errungen.
Einiges deutet darauf hin, dass es an der dortigen Demarkationslinie zu einem Stellungskrieg kommen wird, während Russland Teile seiner Einheiten nach Süden verlegt, um den bislang gescheiterten Vorstoß auf Odessa zu forcieren. Gleichzeitig baut Russland nach Erkenntnissen europäischer Militärbeobachter westlich des besetzten Cherson seine Stellung aus – auch dort die Voraussetzung eines langwierigen Stellungskrieges. Sollte die Übernahme Odessas misslingen, so entsteht auf breiter Front eine Situation, die mit jener des Jahres 1916 am deutsch-französischen Frontverlauf zu vergleichen ist.
Möglich, dass Putin dann sogar bereit wäre, über eine „Waffenruhe“ zu verhandeln, denn seine Invasionsarmee steht vor drei Problemen: Der Materialeinsatz hat tiefe Lücken in das Waffenarsenal Russlands gerissen, die Nachschubproblematik ist nach wie vor ungelöst und die Moral der eingesetzten Mannschaften gering. Putin könnte eine Atempause nutzen, um hier nachzurüsten für die nächste heiße Phase des Überfalls.
Gleiches gilt jedoch auch für die Ukraine. Die militärischen Elite-Einheiten werden durch den Abnutzungskrieg verschlissen – und auch wenn in der Ukraine ein Volkskrieg gegen einen Aggressor geführt wird, bedarf die Ukraine vor allem auch für den Einsatz der modernen Waffen aus dem Westen qualifizierter Kämpfer.
Eine Waffenruhe kann insofern Russland dienen – aber auch der Ukraine die Atemluft geben, hochmodernes Kriegsgerät in Stellung zu bringen.
Hinzu kommt, dass Selenskyj einer Waffenruhe eigentlich nicht zustimmen kann, will er an seinem Ziel festhalten, alle ukrainischen Gebiete nebst der Krim zurückzuholen.
Insofern wäre bereits der Einstieg in entsprechende Gespräche das Eingeständnis beider Seiten, dass ihnen die Luft ausgeht.
Gut vorstellbar insofern auch, dass Putin zur Erholung auf kleiner Flamme weiterkocht. Die Stellungen in den bislang besetzten Gebieten ausbaut, um Befreiungserfolge der Ukraine zu verhindern oder zu teuer zu machen. Dabei aber gleichzeitig die Bombardierung der ukrainischen Logistik und Zivilbevölkerung fortzusetzen, um die Waffen aus dem Westen vor ihrem Kriegseinsatz zu zerstören und die Ukrainer zu zermürben. Russland hätte es in einer solchen Situation in der Hand, über den Zeitpunkt des aktiven Vorstoßes zu entscheiden.
Das Risiko eines solchen Vorgehens wiederum liegt vor allem in der Situation Russlands selbst. Der Unmut im eigenen Land wird zwar weitgehend erfolgreich unterdrückt, doch es mehren sich die Signale, dass er an Breite zunimmt. Zudem ist nicht absehbar, ob und wann die westlichen Sanktionen ihre Wirkung entfalten. Je länger der Überfall dauert, desto größer wird für die Kremlführung das Risiko, sich gegen interne Widerstände behaupten zu müssen.
So lässt sich auch hinsichtlich der Gesamtsituation kaum eine verlässliche Prognose treffen. Die Kampfhandlungen können sich theoretisch noch über Monate und Jahre hinziehen – oder abrupt enden, wenn einer Seite die Luft ausgeht. Bis es so weit ist, werden nicht nur in den battlegrounds weiterhin Tausende sinnlos sterben – es wird auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Ukraine ungebremst fortgesetzt werden.
Denn das Kernproblem der Überfallenen ist und bleibt die faktische Lufthoheit der Russen über ihr Land. Die könnte nur eine schlagkräftige Luftwaffe beenden, wie die der USA. Den direkten Kriegseintritt aber will nach wie vor niemand – und auch weiterhin wirken die Anstrengungen des Westens eher unkoordiniert und unabgestimmt. Ein bisschen hiervon, ein wenig davon. Einen Teil können die Ukrainer sofort einsetzen, für einen anderen bedarf es langwieriger Schulung. Und ein Teil wird von den luftüberlegenen Russen während Transport und Lagerung am Boden zerstört.
Es ist offensichtlich: Keiner der mittelbar und unmittelbar Beteiligten hat bislang ein reales Ausstiegsszenario. Selbst bei der feinen Differenzierung zwischen „Russland darf den Krieg nicht gewinnen“ und „Russland muss den Krieg verlieren“ gibt es keine klare Linie. Theoretisch kann das gegenseitige Morden noch über Jahre fortgesetzt werden. Oder aber, es fällt dann doch eine Seite in sich zusammen. Wer und wann das sein wird, steht gegenwärtig in den Sternen. Die Vorstellungen beispielsweise der EU-Kommission, umgehend in den „Wiederaufbau“ der Ukraine einzusteigen, scheinen insofern absurd. Was soll aufgebaut werden, wenn es bereits morgen wieder zerbombt wird? Und wozu?