Der EU-Stabilitätspakt wurde 1997 geschlossen, um solide öffentliche Finanzen in der künftigen Währungsunion zu garantieren. Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurden die sogenannten Konvergenzkriterien für den Beitritt zur Währungsunion festgelegt, die ein stabiles Preisniveau, stabile langfristige Zinssätze und Wechselkurse, aber auch Obergrenzen für die Gesamt- und Neuverschuldung der Mitgliedstaaten der EU sicherstellen sollten. Ein Eckpfeiler war die Schuldenstandsquote von 60 Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt), ein weiterer das maximale Defizit von drei Prozent des BIP.
Im Dezember 2011 wurde ein neues Regelwerk in Kraft gesetzt, das sicherstellen sollte, dass mehr Haushaltsdisziplin nicht nur gefordert, sondern auch tatsächlich durchgesetzt wird. Die EU-Mitgliedstaaten sollten ihre Neuverschuldung stark reduzieren, ein strukturell ausgeglichener Haushalt verstärkt als Zielwert in den Vordergrund gestellt und seine Einhaltung mit wirksamen Sanktionen versehen werden. Auch wurde ein Abbaupfad der Schuldenstandsquote auf 60 Prozent des BIP vorgeschrieben. EU-Länder, deren Schuldenstandsquote höher liegt, sollten jährlich ein Zwanzigstel der Differenz zwischen ihrer Schuldenstandsquote und der 60-Prozent-Marke abbauen.
Viele Euro-Staaten verzeichnen einen Schuldenstand von über 100 Prozent, darunter Frankreich, Belgien, Portugal und Zypern. Griechenland liegt bei 186 Prozent, Italien bei 148 Prozent und Spanien bei 115 Prozent. Die 60-Prozent-Schuldenstandsquote ist schon seit langem überschritten, Corona-Krise hin oder her. Da dürfte es schlicht unmöglich sein, Schulden abzubauen oder von der Kommission zu sanktionieren, wenn Kriterien nicht erfüllt sind. Und nun ist es der Ukraine-Krieg, der es den Staaten erlauben wird, den Schuldenstand weiterhin in die Höhe zu treiben. Es soll die unsichere wirtschaftliche Lage wegen des Kriegs sein, die offenbar als Begründung dafür ausreicht.
Tatsächlich schwand das BIP in der Eurozone im Jahr 2020 um etwa 6,4 Prozent. Was zur Folge hatte, wegen eines „schweren wirtschaftlichen Einbruchs“ den Stabilitätspakt hinsichtlich Verschuldungs- und Defizit-Obergrenzen auszusetzen.
Doch nun sagt die EU-Kommission für das laufende Jahr 2022 ein Wachstum von 2,7 Prozent voraus und für 2023 ein Plus von 2,3 Prozent. Also ein „schwerer wirtschaftlicher Einbruch“? Ursprünglich war ja vorgesehen, die Haushaltsregeln Anfang 2023 wieder in Kraft zu setzen.
„EU-Schuldenregeln weiter aussetzen: Richtiger Schritt, aber nicht ohne Reform“ titelt das Institut der deutschen Wirtschaft. Aufgrund der großen Unsicherheit sei es ein richtiger Schritt, die Aussetzung noch ein Jahr zu verlängern. Zudem sei es „in der jetzigen Lage schädlich, wenn die Wiedereinsetzung des Paktes hochverschuldete Euroländer zu einer zu starken und wachstumsdämpfenden Konsolidierung zwingen würde“.
Laut dem Handelsblatt verspricht EU-Kommissar Paolo Gentiloni eine Reform des Stabilitätspakts. Die soll nach der Sommerpause angegangen werden. Die Maastricht-Kriterien sollen 2024 wieder greifen.
Doch weitere Schulden befördern die Inflation. Bundesfinanzminister Christian Lindner unterstrich vor einem Treffen mit seinen Kollegen in Brüssel, im Moment sei seine größte Sorge die steigende Inflation, heißt es in den Stuttgarter Nachrichten. Die Entwicklung müsse mit allen Mitteln eingedämmt werden, um schnell zur Stabilität zurückzukehren. Das könne nur über eine Reduzierung der Schulden und der Ausgaben geschehen. „Lindner betonte auch, dass die europäischen Wirtschaftsdaten nicht zwingend dafür sprechen würden, die EU-Schuldenregeln noch ein weiteres Jahr auszusetzen. ‚Deutschland jedenfalls wird davon keinen Gebrauch machen‘.“ Eines ist jedoch sicher: Lindner wird am Ende trotz der geäußerten Bedenken dem EU-Vorhaben zustimmen.
Spätestens seitdem 2014 der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Kommissar Pierre Moscovici in Brüssel das Ruder übernahmen, hat die EU-Behörde die Regeln systematisch in den Wind geschlagen und nicht mehr durchgesetzt, unterstreicht die FAZ. „Vor allem die Regierungen in Paris und Rom wollen den Pakt dennoch in aller Form und endgültig beerdigen. Sie bekommen ihren Wunsch jetzt womöglich erfüllt, ohne dass die von Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni beabsichtigte Reform des Pakts ins Werk gesetzt wird.“ Ende 2023 wird sich endgültig die normative Kraft des Faktischen durchgesetzt haben.