Bundeswahlleiter Georg Thiel hat am Dienstag im Bundestag gefordert, die Bundestagswahl müsse in sechs Berliner Bezirken wiederholt werden. „Wir sind hier in der bundesdeutschen Hauptstadt eines zivilisierten Landes und doch klappt es nicht“, sagte er. Es handele sich um ein „komplettes systematisches Versagen der Wahlorganisation“.
Thiel bestätigte damit die Berichte von TE der letzten Monate und insbesondere der letzten Tage. TE liegen die Unterlagen exklusiv vor. Wir stellen sie aber gern zur Verfügung.
Schon im Oktober erklärte der Bundeswahlleiter, dass geschlossene Wahllokale und Wartezeiten von 2 oder gar 3 Stunden „nicht akzeptabel“ seien. „Für eine Bundeshauptstadt und für ein deutsches Wahlsystem erst recht nicht.“ Im November legte Thiel dann Einspruch gegen die Bundestagswahl ein. Heute wurde vor dem Bundestag mündlich verhandelt.
In seiner Beschwerde spricht Georg Thiel von schwerwiegenden Fehlern gegen zwingende Regelungen des Wahlrechts. In nicht weniger als 6 der 12 Wahlkreise seien die Fehler gar mandatsrelevant. Konkret geht es um die Bundestagswahlkreise 75 (Berlin-Mitte), 76 (Pankow), 77 (Reinickendorf), 79 (Steglitz-Zehlendorf), 80 (Charlottenburg-Wilmersdorf) und 83 (Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost). Die Wahl sei in den genannten Wahlkreisen bis zu 2 Stunden unterbrochen worden. Thiel spricht hier in seiner Beschwerde von unzumutbaren Wartezeiten.
Außerdem haben Minderjährige und EU-Ausländer an der Wahl teilgenommen. In 311 (Angaben der Landeswahlleitung) bzw. 339 (Angaben des Bundeswahlleiters) der 2257 Wahllokale kam es zu Wahlfehlern. Sowohl der Bundeswahlleiter als auch die Landeswahlleitung Berlin sprechen von 255 Wahllokalen, in denen bis 18:31 Uhr oder noch länger – teilweise bis 21 Uhr – gewählt wurde.
Die vorherige Landeswahlleiterin Petra Michaelis habe ihm noch vor der Wahl versichert, dass alles gut organisiert sei, so Thiel. Drei Tage nach dem Wahldesaster trat sie zurück. Wegen der „Schwere, Vielzahl und der Nichtnachweisbarkeit“ von Wahlfehlern, verlangt Thiel eine Wiederholung der Bundestagswahl in den 6 genannten Bezirken. „Diese Probleme gab es im Bundesgebiet noch nie.“ Er sieht eine klare Verletzung der Allgemeinheit und Freiheit der Wahl.
All die Erkenntnisse des Bundeswahlleiters beziehen sich lediglich auf die Bundestagswahl. TE-Recherchen offenbaren für die Wahl zum Abgeordnetenhaus, dem Berliner Landesparlament, noch wesentlich gravierendere Fehler und sogar die Verletzung mindestens eines weiteren Wahlrechtsgrundsatzes.
Im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg wurden an die Wahllokale massenhaft Stimmzettel aus dem Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf ausgeliefert. Das Bezirksamt erteilte an die Wahllokale die Weisung, diese Stimmzettel als ungültig zu werten. Dann erfolgte plötzlich eine Kehrtwende. Im Nachhinein entschied sich das Bezirksamt, die Stimmen doch als gültig zu bewerten. Ausgezählt wurden diese Stimmen vom Bezirksamt, und per Rotstift wurden den Parteien Stimmen zugeteilt – oder eben auch nicht. Mindestens 1900 solcher Fälle werden in unseren Recherchen dokumentiert. Ein völlig intransparenter Vorgang, der den aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten Öffentlichkeitsgrundsatz verletzt.
Der frühere FDP-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus Marcel Luthe, der am Samstag Strafanzeige gegen die Berliner Wahlleitung gestellt hat und schon im Oktober 2021 Einspruch erhoben hatte, glaubt, dass angesichts des „systematischen Organisationsversagens der SPD-geführten Innenverwaltung“ „das aktuelle 19. Abgeordnetenhaus keinen Bestand haben“ könne und durch den Verfassungsgerichtshof wie von ihm beantragt aufzulösen sei. „Bis zu einer Wahlwiederholung muss dann das 18. Abgeordnetenhaus wieder zusammentreten – und einen Senat bestimmen, der in der Lage ist, eine Wahl auch halbwegs demokratisch durchzuführen.“
In Berlin verzögert sich jedoch schon die Aufarbeitung der Bundestagswahl. Der Bundeswahlleiter selbst kann keine Neuwahl anordnen. Hierfür ist das Berliner Landesverfassungsgericht zuständig und dieses sieht offenbar keinen Grund zur Eile. Erst im September soll über den Einspruch des Bundeswahlleiters verhandelt werden. Ein Urteil soll 2 bis 3 Monate später gefällt werden. Eine Wahlwiederholung wäre frühestens Anfang 2023 zu erwarten. Zwischen Einspruch des Bundeswahlleiters und der Wiederholung der Wahl wären dann rund eineinhalb Jahre vergangen.