Tichys Einblick
Ein Nachruf

Vangelis komponierte prophetische Musik, die es heute vielleicht gar nicht mehr gäbe

Über die Toten nichts, oder nur Gutes. Aber das muss nicht für die Überlebenden gelten. Ein Nachruf auf den elektronischen Musikpionier Vangelis, der uns daran erinnert, dass seine großen Erfolge heute vielleicht keine mehr wären.

IMAGO/Zuma Wire

Die internationale wie die deutsche Presse überschlagen sich in Würdigungen der visionären Klangskulpturen des Musikers Vangelis. Aber wäre es nach der auch von diesen Medien immer wieder gepredigten Moral des Wokismus gegangen, dann wäre ein Großteil dieses Werks gar nicht erst entstanden, vor allem die von Vangelis komponierten Soundtracks, denn in den Filmen geht es um Leistungsdenken, Weltentdeckung und düstere Zukunftsvisionen.

Am Dienstag starb der Künstler und musikalische Autodidakt an Herzversagen. Wie seine Nichte berichtet, war er zuvor über Monate mit einer Corona-Infektion auf der Intensivstation eines Pariser Krankenhauses behandelt worden. Den Erfolg fand er „süß und trügerisch“, Musik hielt er eher für eine Wissenschaft als Kunst. Sich selbst sah er weniger als Musiker denn als einen Kanal, aus dem die Musik aus dem „Chaos des Geräuschs“ aufsteigt, ein Radargerät, das die „Symphonien des Himmels“ aufzeichnet.

Geboren wurde er 1943 als Evángelos Odysséas Papathanasíou in der kleinen Stadt Agriá bei Volos, die vor allem für ihre Zitronenlimonade der Marke EPSA bekannt ist. In der Antike lag hier Magnesien, wo man schon früh Magnetsteine gefunden haben soll. Bekannt wurde er unter der populären Kurzform Vangelis, feierte internationale Erfolge zusammen mit Sänger Demis Roussos und anderen. Wie viele bedeutende Musiker unserer Tage genoss er nie eine formale Ausbildung in seinem Fach. Vangelis hatte noch nicht einmal einen Klavierlehrer, noch konnte er Noten lesen oder schreiben. Stattdessen studierte er Malerei an der Akademie der Schönen Künste in Athen. Seine musikalischen Erfolge wären ohne die moderne Technik unmöglich gewesen.

Eine Musik, die die Tabula rasa der Moderne offenbar macht

Sein typischer Stil kristallisierte sich Mitte der Siebzigerjahre heraus, als Vangelis begann, sich vom Progressive Rock zu lösen und erste Filmmusiken komponierte. Daneben produzierte er einige Synthesizer-Alben im selben sphärischen Stil, in dem kein natürliches Instrument erklingt, allenfalls elektronische Imitate. Der erste Eindruck ist der einer äußersten Reduktion auf einfachste Melodieverläufe. Melodien, die beinahe keine mehr sind, sondern aus stereotypen Wendungen zu bestehen scheinen, die kaum Eigenwert besitzen. Was sind schon Melodien, könnte man sagen, angesichts der unendlichen Möglichkeiten der neuen Technik?

Aber genau in dieser Sichtbarmachung der Entropie dürfte die Wirkung dieser Klanglandschaften auf uns bestehen. Sie machen den Zerfall alter Gewissheiten deutlich und zeigen uns mit unsentimentaler Geste die Tabula rasa des modernen Lebens, antizipieren eine zukünftige, kommende Leere in apokalyptischer Weise – wie in „Blade Runner“ von 1982. Sie etablieren einen geradezu maßlosen Raum, der von unendlicher Freiheit geprägt ist, aber auch von Distanzierung und drohender Vereinzelung. Man kann die Atomisierung des modernen Großstadt- und Medienlebens in ihnen hören – sogar da, wo das Thema eigentlich ein ganz anderes war, wie in den Soundtracks zu „Chariots of Fire“ oder „1492: Conquest of Paradise“.

Natürlich gehören diese Filme aus den Jahren 1981 und 1992 heute schon fast zur Bückware der neueren Zeit. Der Sportfilm „Chariots of Fire“ (deutsch „Die Stunde des Siegers“, Oscar als Bester Film 1982) ist – laut dem zeitlosen Lexikon des internationalen Films – des Vergehens schuldig, sich auf die dramatische Handlung zu konzentrieren, also auf einen Plot, in dem es um Sport und Ausgrenzung geht, und darüber „sowohl zeithistorische Bezüge als auch die Fragwürdigkeit eines unreflektierten Leistungsdenkens“ auszublenden – und das aus Anlass der Olympischen Spiele 1924, pfui Teufel.

„Wir leben heute in einer Blade-Runner-Welt“

Bei Ridley Scotts „1492“ muss man inzwischen nicht mehr viel sagen. Die Proteste an zahllosen Kolumbus-Statuen weltweit haben deutlich gemacht, was dem Film fehlt. Ein „respektables Jubelstück“ zur 500. Wiederkehr der Entdeckung Amerikas nannte es der Spiegel damals. Heute würde sich das Hamburger Blatt wohl eher die Zunge abbeißen, ehe es solche Worte in den Druck gibt. Das Lexikon des internationalen Films wusste es wieder einmal im Voraus und sprach von einer „naiven Verfilmung“ ohne historischen Anspruch, die ihre Protagonisten zu „tragisch scheiternden Helden stilisiert“. Das könnte heute sicher keinem Filmschüler mehr passieren. Einen Lerneffekt hat dieser Rückblick: Die allgemeinen Begriffe des öffentlichen Gesprächs über Filme gleichen sich allmählich den elitär verbrämten, dabei verlässlich marxistischen Vorgaben des Lexikons an.

Mit diesen beiden Filmmusiken könnte Vangelis heute also nichts mehr gewinnen. Vermutlich gäbe es die Filme gar nicht, verschluckt vom Weiß der Moralvorgaben. Der dritte legendäre Film-Soundtrack des gebürtigen Magnesiers gehört zu dem Klassiker „Blade Runner“ – und auch da ist fraglich, ob der Film heute in dieser düsteren, nostalgischen Form entstehen könnte. Die Erde als schmutziger, dystopischer Ort, das ginge vielleicht schon, aber da ist auch noch dieser klassische Held, gespielt von Harrison Ford, der am Ende mit der Androidin – die doch irgendwie sehr menschlich ist – aus dem Bild geht. Das sind nun wirklich die Stereotypen des bürgerlichen Kinos jener Jahre. Auch dass man sich gegen übermenschliche Replikanten einfach so zur Wehr setzen darf, bleibt vielleicht nicht immer so klar, wie es im Jahr 1982 war. Vangelis’ Musik zog diesem Drama mit seinen düster glänzenden Bildern ein kongeniales Klanggewand an. 2005 stellte er fest, dass der Film prophetisch gewesen sei: „Wir leben heute in einer Blade-Runner-Welt.“

Immerhin: Vangelis’ Pathos, das Überdimensionierte seiner Visionen und sein Hang zur Steigerungsdramaturgie sind auch den heutigen Beobachtern aufgefallen. Wo würde heute noch ein Projekt von ähnlichem Anspruch realisiert, das dabei auf breite Wirkung angelegt ist, wie das Orchesterwerk „Mythodea“ 2001 in Athen? Das Werk wurde danach zur Musik der NASA-Missionen „2001 Mars Odyssey“ und JUNO (seit 2011). In ihm treffen sich ein von der klassischen Antike inspiriertes Gesamtkunstwerk und die modernste Technologie, die wir haben, dazu feierlich kostümierte Chöre und Solisten ersten Ranges, und mitten darin der lenkende Künstler am Tasteninstrument – ein wirklich klassisches Bild. Wer weiß, ob es noch einmal zu etwas ähnlichem kommt.

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