Die Erzählung der alten Bundesrepublik zum Wort Mittelschicht geht etwa so: Früher konnte sich ein jeder Handwerker ein Eigenheim leisten. Die Ehefrau brauchte auch nicht zu arbeiten, es sei denn, sie wollte unbedingt. Ihre Aufgabe galt der Heimarbeit und der Erziehung. Entsprechende Fernsehwerbungen, etwa von Dr. Oetker, manifestierten dieses Bild.
Was Mittelschicht bedeutet, ist am einfachsten am Einkommen festzumachen. So gilt ein Single zur Mittelschicht, wenn er zwischen 1620 und 2040 Euro netto verdient. Bei Paaren ohne Kind beläuft sich der Wert zwischen 2430 und 4560 Euro. Mit jedem Kind erhöht sich der Definitionswert auf bis zu 6380 Euro monatliches Einkommen.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen hat Deutschland traditionell hohe Bau- bzw. Kaufnebenkosten. So liegt die Grunderwerbsteuer je nach Bundesland zwischen 3,5 und 6,5 Prozent des Preises. Hinzu kommen Maklercourtagen und Notargebühren, die den Erwerb künstlich verteuern. So scheitern gerade junge Familien an den hohen Hürden der Finanzierung. Der immer noch historisch niedrige Zinssatz hilft da wenig, wenn bereits die Kaufnebenkosten unüberwindbar hoch sind.
Dies allein kann jedoch kein Argument sein, dass die Mittelschicht immer kleiner wird, waren doch die Kosten für den Bau und Erwerb von Wohneigentum in Deutschland schon immer recht hoch. So lag der effektive Jahreszins 1980 bei 11,5 und 22 Jahre später, 2002, bei immer noch 5,5 Prozent. Heute können potenzielle Bauherren je nach Bonität unter 2 Prozent einen Kredit aufnehmen.
Löhne können die Inflation nicht kompensieren
Dennoch ist die Wohneigentumsquote in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger konstant geblieben. Und dennoch schrumpft laut einer aktuellen Studie von Bertelsmann die Mittelschicht. 2018 zählten 64 Prozent der Bevölkerung zur oben definierten mittleren Einkommensgruppe, was im Vergleich zu 1995 – mit damals 70 Prozent – ein Schrumpfen um sechs Prozentpunkte bedeutet.
Allein zwischen 2014 und 2017 sind 22 Prozent der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 64 in die untere Einkommensschicht gerutscht – und waren damit laut der Studie arm oder zumindest von Armut bedroht. Und das, obwohl die Zahl der Erwerbstätigen seit 2011 kontinuierlich steigt.
Der Verdacht liegt nahe, dass die Löhne nicht in dem Maße gestiegen sind, dass sie die Inflation kompensieren könnten. Zwar erhöhte sich das Einkommen von 2002 bis 2021 von rund 2700 Euro auf 4100 Euro. Inflationsbereinigt dürfte davon jedoch wenig übrig bleiben. Überhaupt ist der Median des Einkommens nur bedingt aussagekräftig, weil sich innerhalb des Durchschnitts die Zusammensetzung der Gehälter ändern kann. So werden tendenziell immer weniger Stellen in der Breite der gut bezahlten Industrie erschaffen, dafür immer mehr im eher schlechter bezahlten Dienstleistungssektor. Ferner steigen die Löhne bei den höheren Einkommen exponentiell, bei den mittleren Einkommen dagegen weniger.
Bei der aktuellen Inflation, die zu galoppieren droht, kann der Lohn unmöglich kompensatorisch wirken. Denn die knapp 8 Prozent bilden auch nur die halbe Wahrheit ab. Schon vor 10 Jahren konnte die individuelle Inflation bei 6 bis 8 Prozent liegen, obgleich die veröffentliche Teuerungsrate bei rund 2 Prozent lag, was simpel erklärbar ist: So entspricht der „staatliche“ Warenkorb, der die Preissteigerung berechnen soll, nicht selten dem eines Individuums. Eigenheimbewohner sind stets im Vorteil, was die Inflation angeht, gegenüber beispielsweise einem Bürger, der in einer Großstadt lebt und mit horrend steigenden Mieten leben muss. Auch diese Erhöhungen können Lohnsteigerungen oft nicht auffangen.
Der Staat trägt einen hohen Anteil
So erhöhte sich das Durchschnittseinkommen von Einzelhandelskaufleuten in 20 Jahren von rund 2100 Euro auf lediglich 2600 Euro. Inflationsraten von knapp 8 Prozent fressen de facto den Wohlstand dieser Beschäftigten auf. Ähnlich sieht es bei Friseuren, Industrie- und Bürokaufleuten aus. Jedoch gibt es auch andere Beispiele. Das Einstiegsgehalt bei Krankenpflegern beträgt je nach Träger zwischen 2400 Euro und 2900 Euro. Nach 10 Jahren Berufserfahrung kann die Fachkraft mit einem Gehalt von rund 3700 Euro rechnen. Doch auch bei diesem vergleichsweise hohen Sprung dürfte bei einer Inflationsrate von 8 Prozent und mehr kaum mehr etwas übrig bleiben.
Und auch wenn es Ausnahmen gibt, so kann man der These einer schrumpfenden Mittelschicht nur zustimmen. Die Baukosten bleiben hoch, während die Löhne zwar steigen, aber von den steigenden Verbraucherpreisen aufgefressen werden. Der Staat indes trägt sein Übriges dazu bei, indem er nicht bereit ist, von seiner hohen Abgabenlast abzusehen und die Bürger zu entlasten. Das würde der schrumpfenden Mittelschicht sofort helfen. Neben dem ökonomischen kommt auch der soziale Druck hinzu. Menschen fühlen sich abgehängt und von der Politik im Stich gelassen. Dies evoziert entweder sinkende Wahlbeteiligung oder den Erfolg radikaler Parteien.