Tichys Einblick
Ungarns Veto gegen Sanktionen

Orbáns Poker um das Öl-Embargo

Ungarn blockiert das Öl-Embargo gegen Russland und fordert Geld und Zeit für eine Umstellung seiner Infrastruktur. Im Hintergrund geht es um viel mehr.

IMAGO / Xinhua

Zwischen der EU und Ungarn wird derzeit intensiv und mit harten Bandagen verhandelt: Ungarn will dem 6. Brüsseler Sanktionspaket nicht zustimmen, weil dieses die Einfuhr russischen Erdöls verbieten würde. Der im April für vier weitere Jahre wiedergewählte ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nannte den Plan am 6. Mai eine „Atombombe“ – nicht gegen Russland, weil der Effekt auf die russische Wirtschaft ungewiss sei, sondern gegen Ungarn. Die ungarische Wirtschaft, sagte er, brauche erhebliche finanzielle Mittel und mindestens fünf Jahre Zeit, um ohne russisches Öl auskommen zu können. Dann schrieb er der EU-Kommission einen Brief und kündigte ein Veto gegen das Sanktionspaket an.

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Im Hintergrund geht es um mehr als nur technische und wirtschaftliche Details. Für die EU geht es um das Dilemma, ob und wie sie vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges ihren politisch-finanziellen Würgegriff gegen Ungarn aufrechterhalten oder gar steigern kann und will. Für Ungarn geht es darum, sich aus diesem Würgegriff zu befreien. Das Land hat bisher keinen Cent der ausgehandelten 7,2 Milliarden Euro an Covid-Hilfen bekommen. In den Begründungen ist von „rechtsstaatlichen Mängeln“ die Rede, und mit derselben Begründung aktivierte die EU nur zwei Tage nach Orbáns erneutem Wahlsieg ihren Ende 2020 beschlossenen „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ für die Auszahlung von Geldern aus dem Kohäsionsfonds.

Die ungarische Führung hatte die Zurückhaltung der Covid-Mittel im vergangenen Jahr weitgehend als Druckmittel interpretiert, um der ungarischen Opposition bei den Wahlen im April unter die Arme zu greifen. Dieser Analyse folgend, ging man eigentlich davon aus, dass die EU-Gelder nach den Wahlen dann schon kommen würden. In diesem Geiste schob Ungarn sein Covid-Wiederaufbauprogramm 2021 wuchtig an, ohne auf die Gelder aus Brüssel zu warten. Stattdessen gab es eine Vorfinanzierung auf Pump über die Geldmärkte.

Nun aber macht sich die Ansicht breit, dass die EU es darauf anlegen könnte, Ungarn tatsächlich finanziell auszutrocknen. „Wir bekommen kein Geld aus dem Covid-Fonds, und vielleicht auch keine Kohäsionsgelder“, heißt es in Regierungskreisen. Da man aber das Stimulus-Programm zur Bewältigung der Covid-Krise selbst vorfinanzierte und sich der Staat im Vorfeld der jüngsten Parlamentswahlen der Bevölkerung gegenüber sehr spendabel zeigte, gibt es wenig finanziellen Spielraum, auch noch den wirtschaftlichen Impakt eines desaströsen Öl-Embargos abzufedern.

Und so wird nun gepokert: Obwohl ein Embargo als Druckmittel gegen Russland wahrscheinlich nicht den erhofften, kriegsentscheidenden Effekt haben würde, so argumentiert Budapest, sei man durchaus bereit, sich einem Embargo anzuschließen – wenn Brüssel das nötige Kleingeld springen lässt und dem Land genügend Zeit gibt für die Umstellung. Mit anderen Worten, wenn Ungarn faktisch vorerst davon ausgenommen sei. Immerhin könnte man dann aber für das Sanktionspaket stimmen.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen reiste am 9. Mai persönlich nach Budapest, um mit Orbán zu verhandeln. Das war für sich genommen schon bemerkenswert, hatte die Kommission doch erst kürzlich mit harschen Worten den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gegen Ungarn aktiviert.

Nach dem Treffen sprachen beide Seiten von weiterem Klärungsbedarf. Die BBC schrieb, die ungarische Seite habe „mehrere Hundert Millionen Euro“ gefordert. Das war wohl eher untertrieben. Außenminister Péter Szijjártó sagte in einem Interview am 12. Mai, Ungarn brauche mindestens 500 Millionen Euro, um die Technologie seiner einzigen Raffinerie umzustellen – die kann derzeit nur russisches Öl verfeinern. Mehr Pipeline-Kapazität müsse her, zur Adria – nochmal 200 Millionen.

Und dann wäre da noch die anstehende Modernisierung des ungarischen Energiesystems. Das ist teilweise zwar ohnehin enthalten in den „grünen“ Plänen Ungarns für die Verwendung der Covid-Gelder, aber diese Gelder kommen wie gesagt nicht. Es geht also eher um eine Milliarde als um ein paar Hundert Millionen Euro. Und um viel Zeit für die Umstellung.

Federführend für diese Fragen ist in Ungarn das Ministerium für Technologie und Innovation, dort speziell das Staatssekretariat für Energie- und Klimapolitik. Von der Größe her gleicht es eher einem Ministerium, mit 500 Angestellten und Beamten. Dort befragte man alle „Stakeholder“, etwa den Ölkonzern Mol, sammelte Daten und Informationen, und schließlich kam es am 5. Mai zu einem „Embargo-Gipfel“ aller wesentlichen betroffenen Akteure im Ministerpräsidentenamt. Dort fiel die Entscheidung, dass das EU-Sanktionspaket „in dieser Form“ technisch und wirtschaftlich für Ungarn nicht realisierbar sei.

Da spitzt man unwillkürlich die Ohren: In welcher Form wäre es denn akzeptabel? Dass Geld eine Rolle spielt, verhehlt man intern nicht: Wenn die EU ein gutes Angebot mache, sei das „eine neue Situation“. Es werde wohl auch ein Angebot kommen, heißt es in Regierungskreisen. Wahrscheinlich werde die EU aber immer noch keine Mittel aus dem Covid-Topf geben wollen, um sich keinen Vorwürfen auszusetzen, sie nehme Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn nicht ernst genug.

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 Eine Lockerung der Geld-Blockade gegen Ungarn auf dem Wege einer Kompensation für die Auswirkungen eines Öl-Embargos hätte politische Vorteile, ist in Brüssel aber umstritten. Es würde die Kohäsion innerhalb der EU festigen, den Dauerstreit zwischen Brüssel, Budapest und Warschau dämpfen. Beispiel Polen: Kaum jemand redet in Brüssel mehr davon, Polen wegen Vergehen gegen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien zu bestrafen, etwa im Rahmen des laufenden Artikel-7-Verfahrens. Oder den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auch gegen Warschau zu aktivieren.

Dennoch schien eine Einigung am 12. Mai noch so weit entfernt, dass laut einem Bericht von politico gar erwogen wurde, das Sanktionspaket zu vertagen, oder das Öl-Embargo vorerst herauszunehmen. Was die Wirkung eines solchen Embargos auf Russland betrifft, so gibt es berechtigte Zweifel: Es würde den Ölpreis ansteigen lassen, was relativ preiswerteres russisches Öl attraktiver macht für Abnehmer wie Indien, China oder die Türkei, die sich auch den bisherigen Sanktionen nicht angeschlossen haben. Es gibt offenbar keine Impaktstudie zum Öl-Embargo, zumindest legte die EU – den ungarischen Stellen zufolge – keine solche Studie vor. Der einzige messbare, bisherige Effekt der bereits erfolgten, graduellen Einschränkungen der Ölimporte aus Russland ist ein rasanter Anstieg der russischen Erlöse aus dem Verkauf von Öl und Gas.

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