Man stelle sich folgende Situation in Deutschland vor: Es kommt heraus, dass das Bundesverfassungsgericht bald eine Entscheidung treffen wird, die der Partei des Bundeskanzlers missfällt. Politiker der Partei machen daraufhin Stimmung gegen das Urteil und Parteianhänger marschieren zu den Wohnungen der Richter, um sie vom geplanten Urteil abzubringen.
Genau das passiert gerade in den USA.
Samstagnacht hat eine Gruppe von etwa 100 linken Demonstranten die Wohngegend der konservativen Supreme-Court-Richter Brett Kavanaugh und John Roberts aufgesucht, Letzterer ist der Vorsitzende Richter des obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. Die „Aktivisten“ haben lautstark vor den Häusern der Richter Stimmung gegen ein bevorstehendes Urteil zum Abtreibungsrecht gemacht. „Wir werden nicht zurückgehen“, riefen die Demonstranten vor Kavanaughs Haus. „Die Zeit der Höflichkeit ist vorbei“, sagte die Organisatorin des Protests. „Mit Höflichkeit kommt man nicht weiter.“
Die US-Senatorin Elizabeth Warren von den Demokraten schrieb etwa auf Twitter, sie werde „wie in der Hölle kämpfen“. Die gleiche Formulierung verwendete auch Donald Trump vor gut einem Jahr, als er zu Demonstranten gegen die Zertifizierung von Bidens Sieg in der Präsidentschaftswahl sprach, von denen ein radikaler Kern dann später das US-Kapitol stürmte. Die gleichen Metallzäune, die danach monatelang das US-Kapitol abriegelten, sind nun rund um den Supreme Court hochgezogen worden. Aber das hielt den Mob jetzt nicht auf, zu den Häusern der Richter zu ziehen.
Schon vor Tagen, als eine Karte von Privatadressen der Richter veröffentlicht wurde, fragte ein Reporter im Weißen Haus nach, was der Präsident von solchen Demonstrationen vor den Häusern der Richter halte, ob so etwas extrem sei und ob er so etwas verurteilen würde. Die Antwort: „Der Präsident ist der Ansicht, dass es viel Leidenschaft gibt“, und solche Proteste seien nicht extrem, weil sie ja friedlich seien, und er habe „keine Position“ dazu, wo demonstriert werde. Für viele klingt das so, als würde das Weiße Haus solche Einschüchterungstaktiken gegen Richter billigen.
Hintergrund ist das dieses Jahr anstehende Urteil des Supreme Courts im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, der sich um das Abtreibungsrecht dreht und zu einer Aufhebung des umstrittenen Roe v. Wade-Urteils aus den 70ern führen kann. Ein Urteilsentwurf davon, der genau das vorsieht, war vergangene Woche geleakt worden. Mit Roe führte der Supreme Court ein Verfassungsrecht auf Abtreibung ein, das im eigentlichen Verfassungstext gar nicht auftaucht, und schränkte die Restriktionen zu Abtreibungen scharf ein – so scharf, dass die USA dadurch aktuell ein deutlich liberales Abtreibungsrecht haben als die meisten europäischen Länder.
Mit der Aufhebung wäre allerdings Abtreibung keineswegs verboten, was viele fälschlicherweise denken – nur würde wieder jeder Bundesstaat eigene Regelungen dazu treffen, die erwartungsgemäß ganz unterschiedlich sein dürften. Man wird dann beide Extreme sehen: Einige Bundesstaaten erlauben Abtreibung bis zur Geburt, einige werden es bis auf Ausnahmen verbieten, und der Rest wird irgendwo dazwischen liegen. Das ist weniger „undemokratisch“ als vielmehr föderalistisch.
Undemokratisch dagegen könnte man es nennen, wenn die dritte Gewalt im Staat mit Drohungen und Mobs dazu gedrängt werden soll, die Meinung zu ändern. Der Leak des Urteilsentwurfs, der die aktuelle Stimmungsmache erst möglich machte, ist zweifellos eine beispiellose Verletzung der Integrität des Gerichts. Aber es ist bei Weitem nicht die erste Einschüchterung dieser Art, die man in letzter Zeit gesehen hat – gerade von links.
„Ich möchte Ihnen sagen, Gorsuch, ich möchte Ihnen sagen, Kavanaugh, Sie haben den Wirbelsturm befreit und Sie werden den Preis zahlen! Sie werden nicht wissen, was Sie getroffen hat, wenn Sie mit diesen schrecklichen Entscheidungen fortfahren.“ Das sagte der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, schon im März 2020, als er auf den Stufen des Supreme-Court-Gebäudes zwei der konservativen Supreme-Court-Richter beim Namen attackierte.
Und selbst mit den Richtern aus dem eigenen Lager geht man kaum besser um: Stephen Breyer, der älteste Richter des linken Flügels, sah sich mit einer „Tritt zurück, Breyer!“-Kampagne konfrontiert, inklusive entsprechenden Plakatwägen vor dem Gericht, bevor er ankündigte, in den Ruhestand zu gehen. Und nicht mal da gab man ihm die Möglichkeit, die Entscheidung selbst bekannt zu geben: Sie wurde Wochen, möglicherweise Monate vor dem ursprünglich geplanten Termin geleakt, damit Präsident Biden noch schneller eine Nachfolgerin ernennen und durch den Senat bestätigen lassen konnte. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden, da man befürchtet, dass die Republikaner im November die Senatsmehrheit zurück gewinnen.
Am liebsten würden viele Politiker der Demokraten dem Gericht zusätzliche Posten hinzufügen und dann mit eigenen Richtern besetzen, um die ideologische Balance zu verschieben. Eine Taktik, die man in anderen Ländern als autoritäre Attacke auf den Rechtsstaat brandmarken würde. Aber noch spielen nicht alle Senatoren der eigenen Partei bei diesen Spielen mit – also greift man stattdessen zu Druck von außen. Und wenn es sein muss, eben vor der Haustür der Richter.