Niemand kann sagen, dass die Europäische Union nicht besser werden will. Tatsächlich strengt man sich in Straßburg und Brüssel, in EU-Kommission und EU-Parlament, teils sehr an, auf der Effizienzskala hochzurutschen. Das gebietet schon das Eigeninteresse jeder Organisation, und sei sie sonst auch noch so unnütz. Es ist das Grundgesetz alles Lebendigen: Nach außen wie nach innen muss jeder Organismus zeigen können, dass er zu etwas gut ist.
Das zeigen schon die digital gelegten Fundamente des gesamten Prozesses. Blickt man auf die Webseiten, die eigens für diese „Konferenz zur Zukunft Europas“ erstellt worden war, dann begegnet einem zu jedem Themenbereich ein kleiner einführender Text, der schon von ganz allein deutlich macht, wohin die Reise gehen soll.
Allein die Überschriften sind in manchen Fällen genug, um die Destination zu erhellen, etwa das Kapitel „Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit“. Ein Mitgliedsstaat wie Polen, dessen maßgebliche Richter das nationale Recht über dem EU-Gemeinschaftsrecht angesiedelt haben, hätte wohl kaum Sätze formuliert wie: „Die Europäische Union hat konkrete Maßnahmen festgelegt, um die Rechtsstaatlichkeit stärker fördern und durchsetzen zu können. Wir überwachen die Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Ländern …“ In jedem Fall geben diese Worte schon die Richtung für die „Bürgervorschläge“ vor, die darauf folgen sollen. Sie informieren nicht neutral über die Vorhaben der aktuellen EU-Kommission, sondern ergreifen für sie Partei.
Subjektlose Anforderungen werden an den Bürger herangetragen: Wer verlangt hier was von wem?
Alternativ kann man auch das Themenfeld „Migration“ in Augenschein nehmen, wo wiederum vor allem subjektlose „Anforderungen“ an den Leser herangetragen werden: „Die Bewältigung der Herausforderungen im Bereich Migration erfordert ein modernes Migrations- und Asylsystem der Europäischen Union, ein Grenzmanagement, die Zusammenarbeit mit Partnerländern und die Bekämpfung von Schleuserkriminalität. Dies bedeutet auch, diejenigen zu schützen, die vor Gewalt fliehen, und Neuankömmlinge in unsere Gesellschaft zu integrieren.“
Ein „ausgewogener und inklusiver Ansatz“ sei nötig, um gemeinsame Lösungen zu finden, heißt es im selben harmonieseligen Tonfall. Man möchte annehmen, dass es die Standpunkte aller Mitgliedsstaaten sind, die hier „eingeschlossen“ werden sollen. Doch auf derselben Seite findet sich auch ein Link zum „Neuen Migrations- und Asylpaket“, dem Vorschlag der Europäischen Kommission, den dieselbe erst einmal in allen Mitgliedsstaaten, mindestens im Rat, zur Abstimmung stellen sollte, bevor an seine Verwirklichung gegangen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Die restlichen Themengebiete waren „Klimawandel und Umwelt“, „Gesundheit“, „Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung“, „Die EU in der Welt“, „Digitaler Wandel“, „Demokratie in Europa“ sowie „Bildung, Kultur, Jugend und Sport“.
Eine Performance des Inhalts „Schwimm mit und spring“
Doch einen solchen Druck gab es auch im hier interessierenden Verfahren kaum. Denn vor ihrem Abschluss hatte wohl kaum ein politisch Interessierter von dieser europäischen „Zukunftskonferenz“ gehört. Der Abschluss selbst schien nicht ganz für die Augen der Öffentlichkeit gemacht. Angereist war der neu bestätigte französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der damit gewissermaßen seinen Anteil an diesem „Prozess“ offenlegte, sich offen zu ihm bekannte. Zusammen mit Ursula von der Leyen führte er durch einen bunten Vormittag, so möchte man meinen, bevor er zum Antrittsbesuch nach Berlin weiterreiste.
Er verzog freilich keine Miene, als Jugendliche aus verschiedenen Ländern eine Choreographie aufführten, bei der sie mit eleganten Bewegungen über die Stufen des EU-Parlaments glitten, während eine Stimme allerlei merkwürdige Botschaften der Marke „benutze deine Hände wie ein Fisch“, „tauche in den Wasserfall ein“ oder auch „stecke dir einen Holzlöffel zwischen die Beine und spring in den Himmel“ verlas. Das war also die Vorstellung der Parlamentsleitung, der EU-Kommission oder von wem auch immer von der Zukunft unseres Kontinents: eine Jugend, die sich im Eskapismus einer rein ästhetischen Vision verliert, welche natürlich nichts mit den harten Lebenswirklichkeiten des Kontinents zu tun haben kann. Schwimm mit und spring, egal ob ins Wasser oder in den Himmel. Das bleibt von dieser Performance haften.
Der Chef der spanischen Vox-Partei, Jorge Buxadé, schrieb auf Twitter: „Ein Krieg vor den eigenen Toren, Millionen Arbeitsloser, Energiekrise, Bedrohungen an der Südgrenze; und sie führen Stammestänze auf.“
Die Aufführung gehörte eher ins Kapitel „merkwürdige Erscheinung“. Die Substanz des Tages war jenes Lieblingsobjekt der Kommissionschefin von der Leyen und ihres französischen Patrons Macron und noch einiger anderer: eine grundlegende Überholung der Union und ihrer Mechanismen. Und natürlich sprach sich von der Leyen in ihrer Rede für die Vertragsänderungen aus, die auch die 800 Bürger angeregt haben sollen: „Doch, meine Mit-Europäer, wir müssen noch weiter gehen. Ich habe zum Beispiel immer argumentiert, dass das Einstimmigkeitsprinzip in einigen Schlüsselbereichen einfach keinen Sinn mehr ergibt, wenn wir in der Lage sein wollen, schneller voranzukommen.“
Wer waren die 800? Keiner weiß es
Hier kommen wir auf einen wunden Punkt zu sprechen. Denn wer diese „Bürger“ waren, das erfahren wir nicht. Eine Liste der Namen liegt nicht vor. Bekannt wurde lediglich, dass die britische Marktforschungsfirma Kantar mit der Auffindung von 800 angeblich politisch neutralen oder auch „politisch unerfahrenen“ Bürgern beauftragt wurde. Wie sich das definiert, ein „politisch neutraler“, gar „unerfahrener Bürger“, das bleibt das Mysterium dieser Konferenz. Jedenfalls fand die Agentur Kantar die 800 angeblich durch ihre Mobilnummern.
Abseits der Verwicklung einer – vermutlich erneut kostspieligen – Beratungsfirma bleibt die Frage, wodurch diese Auswahl repräsentativ sein sollte und warum die EU-Institutionen nicht selbst für einen gerechten Teilhabe-Prozess sorgen konnten. Nachfragen von Abgeordneten und Beobachtern zu diesem Komplex blieben unbeantwortet. Laut dem Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. – eine konservative Ideenfabrik – waren unter den angeblich zufällig ausgewählten Bürgern dann doch einige mit politischer Erfahrung, etwa Mitglieder des Vereins „Pulse of Europe“ oder das FDP-Mitglied Kalojan Hoffmeister, der zugleich bei den Jungen Europäischen Föderalisten aktiv ist. Die gerechteste Art der Teilhabe an Entscheidungen nennt sich übrigens Demokratie, und die lässt sich in Wahlen und Referenden organisieren, aber das nur am Rande.
Angeblich – so Nicolaus Fest, AfD-Abgeordneter im EU-Parlament – freuten sich einige der 800 Auserwählten, dass in ihrer Gruppe endlich einmal alle „pro Euro, pro Migration, pro Europa, pro Klimaschutz, pro Gender“ seien, während es bei ihr zu Hause ganz anders aussehe. Angeblich, so Fest weiter, wurden die 800 dann in neun Arbeitsgruppen aufgeteilt, bevor sogenannte „Spinelli-Experten“ an sie herantraten, um ihnen die föderalistischen EU-Lösungen zum jeweiligen Diskussionsthema nahezubringen. Die Spinelli Group ist laut eigener Webseite ein „Netzwerk föderalistisch gesinnter EU-Parlamentarier, die sich darum bemühen, „föderale Mehrheiten“ im EU-Parlament zu organisieren – was offenbar Mehrheiten für mehr Super-EU sind. Diese „Experten“, so Fest, sagten dann wörtlich, dass die EU zwar die Lösung für alle Probleme habe, aber leider nicht die nötigen Kompetenzen. Das müsse sich ändern.
Man kann sich nur atemlos wundern, wie man im EU-Parlament offenbar Teilhabe, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit versteht. Man könnte ohne viel Umschweife von einer Farce sprechen. Am Ende erzählt Fest, dass auch die Ergebnisse der Konferenz-Sessionen schon fertig entworfen gewesen seien, die 800 EU-Bürger hätten diesen nur noch zustimmen müssen. Der Vorsitzende der ID-Gruppe, der Italiener Marco Zanni (Lega), sprach von einer „Propaganda-Operation“, die sich weit von den Bedürfnissen der Bürger entfernt habe.
Am Ende ist für jeden etwas dabei, doch zu einem Preis
Doch noch einen weiteren Trumpf hatten die Super-Europäer: Sie hatten nämlich noch ein digitales Dialog-Interface vorgesehen, durch das nun wirklich alle Bürger ihre Auffassung zur „Zukunft Europas“ kundtun konnten. 50.000 Europäer nahmen diese Möglichkeit in Anspruch, also 0,01 Prozent der EU-Bevölkerung. Auch ihre Stimmen sind weit davon entfernt, repräsentativ zu sein, aber vielleicht etwas repräsentativer als die Meinungen (oder Nicht-Meinungen) der handverlesenen 800.
Doch in den Online-Kommentaren fanden sich offenbar zu viele kritische Meinungen – etwa zur Migration, aber auch zu Euro und Pandemie-Management. So liest man zum Thema „Migration“ die folgenden Forderungen einfacher Bürger: „Organische Migration Ja, wilde Migration Nein“, heißt es da von einem Rainer Lippert. Ein halb-anonymer Mehdi UNKNOWN fordert auf Französisch „Arrêter l’immigration“ (die Zuwanderung stoppen). Andere schlagen vor, die Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt zu stärken oder auch schlicht: „No more immigration from non-european or non first world countries“ (so ein gewisser Felix Cofoe). Braucht es noch mehr Klarheit?
Doch für den Abschluss der Konferenz und den vorgelegten Bericht dürften diese „Ideen“ keine Folgen gehabt haben. Dort ist immer nur von Empfehlungen aus „nationalen Bürgerforen“ oder Arbeitsgruppen die Rede. Hier fehlt freilich auch jede Kritik an „zu viel EU“, alles ist in konstruktive Vorschläge übersetzt, aus denen sich kommende Obwaltende aussuchen können, was ihnen behagt, zum Beispiel (aus dem Bereich „Migration“):
- Bewerbung des EU-Zuwanderungsportals für legale Migration und des EU-Kompetenzprofil-Tools für Drittstaatler;
- leichterer Zugang von Migranten zum Arbeitsmarkt über die „Europäischen Arbeitsverwaltungen“ (EURES), deren Befugnisse dazu erweitert werden könnten;
- verstärkte Information der Bürger über die Themen Migration und Integration;
- wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen mit Drittstaaten, aus denen ein großer Außenstrom besteht;
- Schutz der Außengrenzen, jedoch bei Erhöhung der Transparenz und Rechenschaftspflicht von Frontex;
- EU-weite Sicherstellung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes für alle Migranten;
- finanzielle, logistische und operationelle Unterstützung für „lokale Gebietskörperschaften, regionale Regierungen“ und Organisationen der Zivilgesellschaft (also NGOs) bei der „Verwaltung der Erstaufnahme“ – offenbar ist hier ein privat-staatliches Jointventure vorgesehen (beachte auch die Herabstufung von nationalen zu „regionalen“ Regierungen);
- gemeinsame EU-Asylvorschriften, Revision des Dublin-Systems;
- „Die EU sorgt dafür, dass jeder Asylbewerber und jeder Flüchtling während des Aufenthalts an Sprachkursen, Integrationskursen, Berufsausbildungen und Aktivitäten teilnimmt“, natürlich mit Perspektive auf „Zugang zum Arbeitsmarkt“.
Diese Vorschläge können an dieser Stelle nicht ausführlich gewürdigt werden. Sie zeigen aber schon, wie zerfasert dieser Abschlussbericht ist. Es ist für jeden etwas darin zu finden. Dabei „stimmt“ aber auch die allgemeine Richtung stets.
Doch was ist nun eigentlich ein „nationales Bürgerforum“? Auch die Bundesregierung veranstaltete ein solches „Nationales Bürgerforum zur Zukunft Europas“. Im Abschlussbericht dazu heißt es: „Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas (CoFoE) fand im Januar 2022 in Deutschland ein Nationales Bürgerforum statt, organisiert vom Auswärtigen Amt in enger Kooperation mit ifok [eine Beratungsfirma]. Ungefähr 100 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger formulierten am 05. und 08. Januar in digitalen Diskussionsrunden ihre Zukunftsvisionen für Europa und die aus ihrer Sicht wichtigsten Themen in fünf verschiedenen sogenannten Themenforen.“ Es ist kaum zu fassen. Will man uns wirklich so gründlich betuppen? Einhundert „zufällig ausgewählte“ Deutsche durften über die Zukunft der EU aus deutscher Sicht entscheiden? Das soll ein „breit angelegter öffentlicher Dialogprozess“ sein (Zitat aus demselben Dokument)?
Für Nicolaus Fest ist die gesamte „Zukunftskonferenz“ nichts anderes als „Augenwischerei, Betrug, Charade“: „Alle Ergebnisse standen von Anfang an fest. Die angebliche Bürgerbeteiligung war lediglich demokratische Scheinlegitimation.“ Das habe sogar der EU-Liberale Guy Verhofstadt hinter verschlossenen Türen eingeräumt. Die „Konferenz“ sei nichts anderes als „ein politisches Manöver zur weiteren Zentralisierung“ der EU gewesen. Das wiederum übersetzt Fest als die weitere „Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten einer demokratisch nicht legitimierten EU-Bürokratie“.
Dreizehn Mitgliedsstaaten sind gegen den Konferenz-Vorschlag
Kommen wir zu guter Letzt noch zu den „Ergebnissen“ dieser Nicht-Konferenz: Ursula von der Leyen stellte in ihrer Rede in der ihr eigenen, demokratiebefreiten Art fest, dass es natürlich noch zu viel Einstimmigkeitsprinzip in dieser EU gebe. Zum Beifall Macrons verkündete sie, dasselbe sei in vielen Fragen nicht mehr „sinnvoll“ („makes no sense“). Der Vorschlag der EU-800 ist eindeutig: Das Veto soll abgeschafft werden. Allein, eine solche Auffassung kann sich nicht nur auf kein Bürgervotum stützen, sie verfehlt sogar einen Großteil der national gewählten Regierungen.
Dreizehn Mitgliedsstaaten haben unter der Führung Schwedens einen offenen Brief unterzeichnet, der sich mit gemessenen Worten gegen Schnellschüsse bei einer etwa beabsichtigten EU-Reform stellt. Zu den Gegnern gehört ganz Ostmitteleuropa, die drei nordischen Mitglieder sowie Malta. Von Schweden bis Bulgarien will keines dieser Länder, die sich nördlich und östlich direkt an Deutschland anschließen, eine Veränderung der Verträge. „Wir erinnern daran, dass Vertragsänderungen niemals das Ziel der Konferenz waren“, heißt es in dem Nicht-Papier der Dissidenten. Entscheidend sei es, die (wirklichen) Vorstellungen und Sorgen der Bürger ernstzunehmen. Trotzdem unterstützen die Dreizehn keine „undurchdachten und vorschnellen Versuche“, die zu einer Vertragsänderung führen sollen. Im Übrigen könne die EU auch in ihrer derzeitigen Form durchaus „liefern“, wie verschiedene Krisen gezeigt hätten, darunter der Ukraine-Krieg oder Covid-19. Auch so kann man ein bittersüßes Stoppschild formulieren.
Guy Verhofstadt, der einstige Vorsitzende der liberalen EU-Fraktion „Renew Europe“, tweetete noch weitere Ziele, die von der Konferenz abgesegnet worden seien, zum Beispiel die Einführung gemeinsamer Streitkräfte. Eine „radikale Überholung der EU“ werde das, freut sich der Hyper-Europäer. Wenn das nur nicht zu früh kommt … In der Feierstunde im Parlament sagte Verhofstadt allen Ernstes, alle Menschen liebten Europa, die Bürger glaubten an das „europäische Projekt“. Allerdings seien die meisten Menschen zugleich der Meinung, dass die EU „nicht auf der Höhe ihres Traums, ihres Ideals“ sei. Und das sorge für das „extreme“ Maß an Kritik am Funktionieren der EU.
Kaum eine verfehltere Analyse ist denkbar. Die Kritik der vielen skeptischen Bürger an dieser EU speist sich aus einem ganz anderen Zusammenhang – dem Misstrauen, ob Macht und Einfluss in den Händen der Eurokraten gut aufgehoben ist.
Macron schlägt „politische Gemeinschaft“ mit Briten und Ukrainern vor
Insgesamt ist angesichts des aufgezeigten Verfahrens wenig erstaunlich, dass die Vorschläge, die bei diesem pseudo-demokratischen Marathon herauskamen, alle wie aus dem Straßburg-Brüsseler Ei gepellt wirken. Vorgeschlagen wird eine verstärkte Digitalisierung – wer könnte da widersprechen? – und eine effektivere EU-Außenpolitik, aber auch die „Harmonisierung“ der Migrationspolitik (welche Harmonie wird hier gesucht?), eine Debatte über Werte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit, die Senkung des EU-Wahlalters von 18 auf 16 Jahre und – zuletzt – die ersatzlose, komplette Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU, die sogar der Wiener Standard als latenten Kritikpunkt vermerkt.
Den Mitgliedsländern wird also mit anderen Worten vorgeschlagen, sich selbst und ihre Bedeutung in diesem EU-Konstrukt lieber ganz aufzugeben und sich zu Teilgebieten eines europäischen Superstaats zu degradieren. Nicolaus Fest weist darauf hin, dass durch die dann kommenden Mehrheitsentscheidungen letztlich Franzosen, Bulgaren, Luxemburger und Maltesen den Deutschen in ihre Steuergesetzgebung hineinreden könnten. Der Widerstand gegen derlei Neuerungen organisiert sich trotzdem bisher in den kleinen bis mittelgroßen Ländern, die nicht dem Zweibund Deutschland–Frankreich angehören oder sich in dessen Dunstkreis bewegen.
Macron, der nicht einfach ein EU-Träumer ist, sondern seine realpolitischen Absichten durch den Staatenbund verwirklichen will, sagte in seiner Rede, dass sich der Beitrittsprozess der Ukraine sicher noch hinziehen wird, vermutlich über Jahrzehnte, wie das eben so üblich sei. Er schlug stattdessen eine aus seiner Sicht wohl schneller zu erreichende „politische Gemeinschaft“ vor, die die enger verflochtene EU wie ein Kordon umgeben könnte, in dem er sich auch das Vereinigte Königreich vorstellen konnte. Viele Briten winkten umgehend ab und baten darum, dass dieser Kelch an ihnen vorbeiginge.
Im Übrigen gibt es die politische Gemeinschaft schon, von der Macron spricht. Es ist der Europarat, in dem fast alle Länder Europas Mitglieder sind – bis auf Russland und Weißrussland, deren Mitgliedschaft entweder noch warten lässt oder (schon vor dem aktuellen Krieg) suspendiert wurde. Macron stellt sich offensichtlich eine etwas engere Assoziation zwischen Kernmitgliedern und Kranz-Gemeinschaft vor.
Zahlreiche Kooperationen zu den Themen Sicherheit, Energie, Transport, Infrastrukturfinanzierung und Bewegungsfreiheit, speziell von Jugendlichen, würden EU-Einwohner und die Bürger der „politischen Gemeinschaft“ einen. Zu Deutsch: Macron möchte, dass junge Franzosen wieder ohne Probleme in England studieren können. Klar bleibt aber daneben: Für Macron hat nicht die Erweiterung der EU Vorrang, sondern ihre Vertiefung, die auch durch die Ergebnisse dieser „Konferenz“ weiter vorangetrieben werden soll.
Geschlechterparität und „transnationale Kandidaten“
Wenn aber die Annahme der Vorschläge – wie im Fall des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen im Rat – so unwahrscheinlich ist, warum werden diese dann überhaupt gemacht? Noch dazu mit solchem Nachdruck, wie ihn Ursula von der Leyen einmal mehr im besten Autokratensprech an den Tag legte, ganz nach dem Motto: Wir in Brüssel wissen, was das Beste für euch sein wird. Man rätselt zunächst, aber natürlich wird so auch Druck ausgeübt in Richtung auf ein größeres „Zusammenrücken“ der Mitglieder bei anderen Vorschlägen.
Eigentlich müsste es so sein, dass schon diese „Züchtigungsmethode“ für Verstimmung sorgt und noch mehr Mitgliedsländer zu einer Rebellion gegen die Brüssel-Straßburger Pläne bringt. Aber das dürfte – zumindest als Kampf im offenen Feld – unwahrscheinlich sein, wie auch der nordisch-osteuropäisch-maltesische Brief zeigt, weil man dann doch auf ein EU-Miteinander angewiesen ist, das ja – für jeden einzelnen beteiligten Staat – auch sein Gutes haben mag. Die Zentrale – und mit ihr bedeutende Länder wie Frankreich und Deutschland – sollten den Bogen aber nicht überspannen und sich lieber strikt am Subsidiaritätsprinzip orientieren. Nichts muss vergemeinschaftet werden, das besser oder gleich gut auf nationaler Ebene zu regeln ist. So einfach könnte es sein.
Daneben sollten die Eigentümlichkeiten der Mitgliedsstaaten erhalten bleiben, die zudem die einzige real existierende demokratische Legitimation im Unionsraum besitzen. Weder die EU-Kommission noch das EU-Parlament können Ähnliches vorweisen, einfach weil es kein EU-Volk und keine europäische Öffentlichkeit gibt. Auch die gemeinsam durchgeführten Wahlen zum EU-Parlament entsprechen eher Stimmungstests in jedem einzelnen Mitgliedsland. Hier möchten die EU-Anführer ebenfalls gerne etwas verbessern, indem sie neben der Geschlechterparität auch noch „transnationale Kandidaten“ ermöglichen wollen. Dann könnte ein polnischer Wähler auch für einen deutschen Kandidaten stimmen und ein Maltese für einen französischen. Ob das die Erlösung vom EU-Demokratiedefizit brächte? Eher verstärkte es wohl das Wasserkopfartige, Unbodenständige des Straßburger Parlaments.
Selbst wenn man die Parlamentswahlen als Abstimmung über die Zusammensetzung der Kommission annimmt, zeigte zuletzt die Berufung Ursula von der Leyens statt des eigentlichen EVP-Kandidaten Manfred Weber die mangelhafte Legitimation der Entscheidungen durch den Bürgerwillen. Natürlich kann man argumentieren, dass Emmanuel Macron als direkt gewählter französischer Präsident ohnehin immer eine höhere demokratische Legitimität haben wird als ein aus Parteienproporz und Zufällen hervorgegangener Straßburger Abgeordneter. Aber diese Legitimität besitzt er nur für Frankreich, weder für den Rest der EU noch für eine noch zu gründende „politische Gemeinschaft“, die die EU seinem Willen nach umzingeln soll. Es wäre wohl noch das harmloseste Projekt des Franzosen, auch wenn es zweifellos dazu gemacht ist, Länder an den Unionsblock zu ketten, die sonst – wie Großbritannien – ganz andere Wege gehen könnten. Diese Möglichkeit beunruhigt den wiedergewählten Macron zu Recht noch immer sehr.