Mit ihrem Wahlergebnis von 93,23 Prozent kann die neue DGB-Chefin Yasmin Fahimi zu Recht behaupten, sie habe ein starkes Mandat. Auf der SPD-Politikerin, die an diesem Montag zur Vorsitzenden des Gewerkschafts-Dachverbandes gekürt wurde, lastet aber auch ein erheblicher Erwartungsdruck der Mitglieder, die sie fast einstimmig in die neue Position hoben. Die Gewerkschaften, so die Forderung der Arbeitnehmer, sollen in den Tarifrunden 2022 mindestens eine Milderung der Inflation von der derzeit 7,3 Prozent durchsetzen. Das heißt: Abschlüsse müssten deutlich über dieser Marke liegen. Auf ihrer Antrittsrede sagte Fahimi, Lohnzurückhaltung werde es nicht geben: „Das wäre das völlig falsche Signal“.
Die galoppierende Inflation vernichtet seit Monaten Kaufkraft von Millionen Beschäftigten. Schon im Jahr 2021 sanken in Deutschland die Reallöhne leicht – um 0,1 Prozent. Das lag zum einen an der Geldentwertung, die damals schon langsam Fahrt aufnahm – aber auch an den Corona-Lockdowns, die für viele Beschäftigten zur Kurzarbeit führten.
Ohne Tariferhöhung würden die Reallöhne 2022 sehr kräftig sinken – dieser Logik entkommt 2022 kein Verhandlungsführer.
In der Metallindustrie stehen die Tarifverhandlungen im Mai an – am 30.Mai läuft der alte Tarifvertrag für die nordwest- und ostdeutsche Stahlindustrie aus. Die Metallgewerkschaft verlangt ein kräftiges Lohnplus von 8,2 Prozent, und das nicht in Raten, sondern sofort. Auch andere Branchengewerkschaften werden sich an dieser Zahl orientieren.
Nicht nur wegen der Inflation fallen die Lohnforderungen 2022 hoch aus. Durch den Versuch der westlichen Staaten, unter dem Stichwort Decoupling – also Abkoppelung – wieder Produktion aus Asien und Russland zurückzuholen, steigt der Wert der Arbeitskräfte auch langfristig. Dazu kommt: in vielen Industriebranchen gehen in den kommenden Jahren deutlich mehr Arbeitskräfte in den Ruhestand, als junge Beschäftigte nachrücken. Wer auf der Gewerkschaftsseite am Tisch sitzt, verfügt zurzeit über eine gute Verhandlungsposition.
Nur: Selbst Lohnerhöhungen von über acht Prozent reichen noch nicht einmal, um mit dem, was dann netto bleibt, die Inflation auszugleichen. Andererseits kommt mit den Tarifrunden genau ein Prozess in Gang, der die Inflation fast von selbst vorantreibt, ganz unabhängig von den Energie- und Lebensmittelpreisen: Die Lohn-Preis-Spirale. Denn den Unternehmen wiederum bleibt nichts anderes übrig, als die höheren Gehälter am Markt wieder hereinzubekommen. Für exportstarke Großunternehmen gibt es dafür durchaus Spielraum: ihnen hilft es, dass der Euro im Mai auf seinen tiefsten Stand seit fünf Jahren rutschte. Bei Erzeugnissen und Dienstleistungen von Betrieben, die vor allem vom Heimatmarkt leben, werden die Beschäftigten mit etwas Zeitverzug merken, dass sie ihr Lohnplus – selbst, wenn es üppig ausfällt – an der Ladenkasse wieder abgeben müssen. Argumentativ bauen Gewerkschafter deshalb schon vor. „Unsere Mitglieder spüren die Inflation, wenn sie morgens zum Tanken an die Tankstelle fahren“, meint Knut Giesler, Verhandlungsführer für die nordwestdeutsche Stahlindustrie. „Aber eine Inflationsrate, die wegen des Kriegs explodiert, können wir nicht allein mit einer Tariferhöhung bewältigen.“
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) warnt bereits vor der Aussicht, dass hohe Tarifabschlüsse die Geldentwertung weiter vorantreiben. „Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist real“, meinte er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters. „Die Inflationsentwicklung würde dann zusätzlich verstärkt.“
Er verspricht, mit dem so genannten Entlastungspaket der Bundesregierung Druck aus den kommenden Tarifverhandlungen nehmen zu können.
Die neue DGB-Chefin Fahimi sieht offenbar auch, dass Lohnsteigerungen allein die Inflation nicht ausgleichen. Sie brachte in ihrer Rede etliche Stichpunkte des linken SPD-Flügels zur Umverteilung unter. Nach ihrer Vorstellung soll auch der Staat die Geldentwertung ausgleichen. Zum einen mit mehr Schulden: „Die sogenannte Schuldenbremse“, so Fahimi auf dem DGB-Kongress, „ist längst aus der Zeit gefallen. Sie ist nichts anderes als eine ideologische Bremse gegen einen aktiven Staat und gegen eine soziale Politik.“ Verteilung auf Pump reicht ihr allerdings noch nicht. Sie verlangte außerdem die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, außerdem einen „Lastenausgleich“ per Sonderabgabe für Wohlhabende. Beides würde das ohnehin schon geringe Wirtschaftswachstum in Deutschland weiter drosseln.
Fahimi, die von 2014 bis 2016 als SPD-Generalsekretärin amtierte und danach als Staatssekretärin ins Bundesarbeitsministerium wechselte, sitzt auch im SPD-Vorstand. In Kombination mit dem DGB-Vorsitz verfügt sie also durchaus über die Möglichkeit, ihre Umverteilungsvorstellungen in der Partei von Kanzler Olaf Scholz durchzusetzen.