Politiker-Ansprachen anzuhören vermeide ich seit langem. Die als direkte Botschaft an die Bürger Deutschlands angekündigte Rede von Kanzler Scholz wollte ich weniger anhören als anschauen. Denn nicht nur, aber ganz besonders bei Scholz lohnt das Lesen von Körpersprache und Mimik. Scholz’ Körpersprache und Mimik bestehen darin, jede Art von Bewegung in jedem Sinne des Wortes zu vermeiden.
Hier ist erstmal der komplette Wortlaut in Text, Bild und Ton (bei Phoenix gefunden), damit Sie nicht nur auf meinen Kommentar angewiesen sind. Ich markiere im Text die Stellen, die ich kommentiere.
Liebe Mitbürgerinnern und Mitbürger!
Heute vor 77 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Das Schweigen der Waffen am 8. Mai 1945 glich einer Friedhofsruhe – über den Gräbern von mehr als 60 Millionen Frauen, Männern und Kindern. Millionen von ihnen sind auf den Schlachtfeldern gefallen. Millionen sind in ihren Städten und Dörfern, in Konzentrations- oder Vernichtungslagern ermordet worden. Deutsche haben dieses Menschheitsverbrechen verübt.
Umso schmerzhafter ist es mitzuerleben, wie heute, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erneut rohe Gewalt das Recht bricht, mitten in Europa. Wie Russlands Armee in der Ukraine Männer, Frauen und Kinder umbringt, Städte in Schutt und Asche legt, ja selbst Flüchtende angreift. Für mich ist dies ein 8. Mai wie kein anderer. Deshalb wende ich mich heute an Sie.
Wir können nicht an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnern, ohne der Tatsache ins Auge zu sehen: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Russland hat diesen Krieg entfesselt. Einst kämpften Russen und Ukrainer gemeinsam unter größten Opfern, um Deutschlands mörderischen Nationalsozialismus niederzuringen. Deutschland hat sich damals schuldig gemacht, an beiden Nationen, der russischen wie der ukrainischen. Mit beiden streben wir seit Jahrzehnten nach Aussöhnung. Nun jedoch will Russlands Präsident Putin die Ukraine unterwerfen, ihre Kultur und ihre Identität vernichten.
Präsident Putin setzt seinen barbarischen Angriffskrieg sogar mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleich. Das ist geschichtsverfälschend und infam. Dies klar auszusprechen, ist unsere Pflicht. Doch damit ist es nicht getan. Es war der militärische Sieg der Alliierten, der der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ein Ende setzte. Wir Deutsche sind dafür bis heute dankbar! Daher konnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sprechen.
Aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 haben wir eine zentrale Lehre gezogen. Sie lautet: „Nie wieder!“ Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft. Und doch ist es wieder passiert – Krieg in Europa. Darauf hat der ukrainische Präsident Selenskyj heute hingewiesen. In der gegenwärtigen Lage kann dies nur bedeuten: Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor.
Das nicht zu tun, hieße zu kapitulieren vor blanker Gewalt – und den Aggressor zu bestärken. Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann. Daher haben wir in den vergangenen Tagen und Wochen weitreichende und schwierige Entscheidungen getroffen – zügig und entschlossen, durchdacht und abgewogen.
Wir haben nie dagewesene Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die russische Führung verhängt, um Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Mit offenen Armen haben wir hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Hunderttausende, die vor der Gewalt in ihrer Heimat bei uns Zuflucht finden. Hilfsorganisationen leisten erste Unterstützung, Schulen und Kitas richten Willkommensklassen ein, Bürgerinnen und Bürger nehmen Geflüchtete bei sich zuhause auf.
Für diese enorme Hilfsbereitschaft überall in unserem Land danke ich Ihnen von Herzen! Und – wir haben erstmals überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik Waffen in ein solches Kriegsgebiet geschickt, in großem Umfang – und immer sorgfältig abwägend auch schweres Gerät. Das setzen wir fort.
Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr diese Entscheidungen viele von Ihnen bewegen. Schließlich geht es buchstäblich um Krieg und Frieden. Um unsere historische Verantwortung. Um maximale Solidarität mit der angegriffenen Ukraine. Um die Sicherheit unseres Landes und unseres Bündnisses. Diese Ziele miteinander in Einklang zu bringen – dieser Aufgabe stellen wir uns Tag für Tag. Dass wir als Land über Fragen solcher Tragweite intensiv miteinander diskutieren, ist gut und legitim. Zur Demokratie gehört auch, solche Kontroversen in „Respekt und gegenseitiger Achtung“ zu führen. Darauf hat der Bundespräsident in seiner Rede heute Morgen zu Recht hingewiesen.
Aus vielen Äußerungen, die ich dieser Tage höre, spricht ernste Sorge. Sorge auch davor, dass sich der Krieg ausweitet, dass der Frieden auch bei uns in Gefahr geraten könnte. Es wäre falsch, das einfach abzutun. Solche Sorgen müssen ausgesprochen werden können. Gleichzeitig gilt: Angst darf uns nicht lähmen.
Ich habe Ihnen geschildert, was wir tun, um Recht und Freiheit zu verteidigen in der Ukraine und in ganz Europa. Das ist sehr viel. Und zugleich tun wir nicht einfach alles, was der eine oder die andere gerade fordert. Denn: Ich habe in meinem Amtseid geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Dazu zählt, unser Land und unsere Verbündeten vor Gefahren zu schützen. Vier klare Grundsätze folgen daraus für die Politik:
Erstens: Keine deutschen Alleingänge! Was immer wir tun, stimmen wir auf das Engste mit unseren Bündnispartnern ab – in Europa und jenseits des Atlantiks. Zweitens: Bei allem, was wir tun, achten wir darauf, unsere eigene Verteidigungsfähigkeit zu erhalten! Und: Wir haben entschieden, die Bundeswehr deutlich besser auszustatten, damit sie uns auch in Zukunft verteidigen kann. Drittens: Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland. Und viertens: Wir werden keine Entscheidung treffen, die die Nato Kriegspartei werden lässt. Dabei bleibt es!
Dass es keinen Weltkrieg mehr geben soll – erst recht keinen zwischen Nuklearmächten – auch das ist eine Lehre des 8. Mai.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, wann und auf welche Weise Russlands grausamer Krieg gegen die Ukraine enden wird. Klar ist aber: Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht. Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlossen und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen – so wie Freiheit und Sicherheit vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert haben. Dazu nach Kräften beizutragen, das bedeutet heute „Nie wieder“! Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai.
Nun zu den markierten Stellen.
Zuerst sagt Scholz: Wir haben nie dagewesene Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die russische Führung verhängt, um Putin von seinem Kriegskurs abzubringen.
Unter Vier klare Grundsätze heißt es weiter: Drittens: Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland. Wendet Scholz diesen Maßstab an, darf Deutschland sich an keiner Sanktion beteiligen.
Dann weiter mit dieser Passage: Und – wir haben erstmals überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik Waffen in ein solches Kriegsgebiet geschickt, in großem Umfang – und immer sorgfältig abwägend auch schweres Gerät. Das setzen wir fort.
Scholz’ Grundsatz vier lautet: Wir werden keine Entscheidung treffen, die die Nato Kriegspartei werden lässt. Dabei bleibt es!
Ob und wodurch die Nato Kriegspartei wird, hat zwei Seiten. Die eine ist die im Westen gängige, völkerrechtlich juristisch argumentierende Lesart, die andere ist schlicht, wie Putin Waffenlieferungen aus Nato-Ländern an die Ukraine bewertet.
Ziemlich zu Beginn hatte Scholz konstatiert: Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor. Damit ist Deutschland – Völkerrecht hin oder her – politisch Kriegspartei wie die USA und andere Nato-Länder, die Waffen in die Ukraine liefern, oder wie einzelne Nato-Länder die Ukraine mit aktuellen Luftaufklärungsdaten in ihrer Kriegsführung unterstützen.
Am Ende zählt aus Scholz’ ganzer Rede nur sein Erstens: Keine deutschen Alleingänge! Was immer wir tun, stimmen wir auf das Engste mit unseren Bündnispartnern ab – in Europa und jenseits des Atlantiks.
Daraus destilliere ich, was ja auch spätestens in Ramstein für jedermann sichtbar stattfand: Die USA sagen, wo es lang geht – im Alleingang – Deutschland folgt früher oder später. Wenn Scholz hier tatsächlich meint, was er formuliert, wäre das die formelle Beerdigung der SPD-Entspannungspolitik, die zu einer Art Doktrin der Bundesrepublik wurde und nicht nur die Grünen mit einschloss, sondern weitgehend alle Parteien.
(Eine persönliche Anmerkung: Solange unsere wirkliche Welt ohne eine Führungsmacht nicht auskommt, also noch lange, sind mir die USA lieber als jede andere.)
Eine Passage hängt völlig in der Luft: Dass es keinen Weltkrieg mehr geben soll – erst recht keinen zwischen Nuklearmächten … Oder sie hängt eben nicht in der Luft, sondern hebt wie die zwei hinter dem Rücken gekreuzten Finger in bairischer Gebärdensprache die Wirkung der vorne erhobenen Schwurfinger wieder auf.
Ich habe Scholz genau zugesehen und in eine unbewegte Maske geschaut. Ich vergleiche das, was er bei dieser Rede und auch sonst an nicht an die Mitbürgerinnen und Mitbürger richtet, sondern an die Einheitsmeinungsmedien, mit dem, was er und seine Regierung tun: Er verfährt nach dem Motto, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Scholz wurstelt sich durch. Solange er Washington, Brüssel und den anderen genug Steuermillionen und -milliarden überweist, ohne die Steuerzahler je gefragt zu haben, ob er das darf, werden ihn die Führungsmacht USA und deshalb auch die anderen gewähren lassen. Dass auf Deutschlands Classe Politique kein Verlass ist, wissen sie ohnedies alle seit Jahrzehnten.
Aus Scholzens Ansprache können sich daheim alle Seiten das rauspicken, was sie als Bestätigung ihrer eigenen Position verstehen (wollen). Ich glaube ihm und denen, die ihn stützen, kein einziges Wort. Wer sich binnen Tagen von einem Pazifisten, der immer nur Eskapist war, zum Bellizisten verwandelt, kann diese Wendung natürlich morgen auch durch jede andere ersetzen.
Was er will, steckt nach Scholzens Rede so im Nebel wie vorher: zweifellos das Ziel des Kanzler-Auftritts – und ganz im Interesse der Ampel-Regierung des entschiedenen Als-ob.