Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 stellt die Grundrechte an den Anfang des Verfassungstextes; erst im Anschluss daran folgen die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen. In der Weimarer Reichsverfassung waren die Grundrechte, die nach damaliger Auffassung ohnehin im Wesentlichen nur die Exekutive und die Verwaltungsgerichtsbarkeit binden sollten (nicht aber den Gesetzgeber, und im Zivilrecht sollten sie auch keine Rolle spielen), als eine Art Annex hinten an die Verfassung angehängt.
Nach dem Grundgesetz binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Das heißt, sie sind von jedem Gericht immer und überall zu beachten. (Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auch ins Privatecht, die sich frühere Juristengenerationen nicht so recht vorstellen konnten, wurde 1958 vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt: BVerfGE 7, 198 [205] – Lüth). Auch die Gesetzgebung ist – anders als noch in der Weimarer Republik – an die „verfassungsmäßige Ordnung“ gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Doch diese radikal grundrechtsfreundliche neue Verfassungslage Westdeutschlands warf ein Problem auf: Die Gerichte sind, bei aller richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG), natürlich an Recht und Gesetz gebunden. Vom Gesetzgeber kann ein Gericht sich nicht emanzipieren – wie soll ein Bürger also vor Gericht geltend machen, der Gesetzgeber selbst habe seine Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung nicht beachtet?
Nach der ursprünglichen Konzeption des Grundgesetzes war ein Vorgehen normaler Bürger gegen parlamentarische Gesetze in der Tat nicht vorgesehen. Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes konnte durch das Bundesverfassungsgericht nur im Wege der „abstrakten Normenkontrolle“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages festgestellt werden, oder aber im Wege der „konkreten Normenkontrolle“ durch Vorlage eines Gerichts (Art. 100 Abs. 1 GG). Aber dies blieb ungereimt; waren doch die Grundrechte, demonstrativ an den Anfang der Verfassung gestellt, um der Bürger willen da!
Der Bürger kann daher Verfassungsbeschwerde gegen jeden Akt staatlicher Gewalt – durch Legislative, Exekutive und Judikative – erheben, durch den er seine Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte (dies sind Grundrechte, die anderswo als im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes geregelt sind, wie zum Beispiel das Recht auf rechtliches Gehör) verletzt sieht. Bei Rechtsakten der Verwaltung oder der Gerichte muss zunächst der einfache Rechtsweg ausgeschöpft werden. Bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze gibt es keinen Rechtsweg, hier steht gleich der Weg zum Bundesverfassungsgericht (binnen Jahresfrist) offen. Der geschichtliche Rückblick zeigt, dass die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze das eigentliche Herzstück des Verfassungsbeschwerderechts ist: Denn ohne diese, vor den einfachen Gerichten, wäre der Bürger gegen Gesetze hilflos, die die Gerichte eben zu beachten hätten.
Gegen die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ in § 20a Infektionsschutzgesetz, durch die unter anderem Ärzte und Pfleger bei Androhung eines Berufsverbots gezwungen werden, sich mit einem bislang nur provisorisch zugelassenen und offenbar weithin (oder jedenfalls bereits nach etlichen Wochen) unwirksamen „Impfstoff“ behandeln zu lassen, bei dem es sich in Wahrheit nicht um einen bewährten Totimpfstoff, sondern in der Sache um eine prophylaktische Gentherapie handelt, die seit geraumer Zeit im Verdacht steht, unter Umständen erhebliche Nebenwirkungen wie zum Beispiel Thrombosen auszulösen, sind bislang 210 Verfassungsbeschwerden von insgesamt 1153 Beschwerdeführern beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Bereits am 21. April 2022 waren hiervon bereits 171 (also über 80 Prozent) nicht zur Entscheidung angenommen worden. Diese Zahl wird seither beträchtlich gestiegen sein; es steht zu erwarten, dass fast alle im Zusammenhang mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erhobenen Verfassungsbeschwerden gar nicht erst zur Entscheidung angenommen werden.
Bereits seit 1953 gab es vonseiten des Bundesverfassungsgerichts Bemühungen, die Arbeitsbelastung, die durch einen ständigen Zustrom von Verfassungsbeschwerden dort entsteht (und von denen manche ja wirklich eher unqualifiziert sind, indem zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht als „erste Hilfe“ und nicht erst nach Erschöpfung des Rechtsweges angerufen wird), irgendwie einzudämmen. Wegen des enorm hohen Ranges des Individualrechtsschutzes und vor allem -grundrechtsschutzes unter dem Grundgesetz haben diese Abwehrversuche sich jedoch erst 1993 durchsetzen können.
Allerdings gibt es – mangels Berufungsinstanz – keine Möglichkeit, die Nichtannahmeentscheidung durch die Kammer irgendwie überprüfen zu lassen, auch wenn sie noch so offensichtlich unrichtig zu sein scheint. Und gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG – eine rechtspolitisch mehr als zweifelhafte Norm! – bedarf die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde noch nicht einmal einer Begründung.
Nicht erst heute und im Streit um die einrichtungsbezogene Impfpflicht entsteht der Eindruck, dass die Möglichkeit der Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden durch den – in Fachkreisen spätestens seit der Klimaschutz-Entscheidung vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18 u.a.) als rotgrüne Gesinnungstruppe geltenden – Ersten Senat auch massenhaft genutzt wird, um politisch eher unliebsamen Verfassungsbeschwerden schnell und unauffällig jede Wirkung zu nehmen.
So hatte sich der Erste Senat in einem Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bereits vom 10. Februar 2022 zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht positioniert (2 BvR 2649/21). Schon damals meinte der Senat, freilich ohne nennenswerte Begründung, keine „durchgreifenden“ verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht erkennen zu können. Denn nicht nur sei die Impfung frei von Nebenwirkungen und schütze zuverlässig, es bestehe auch eigentlich gar keine Impfpflicht: Denn jeder Arzt, der damit Probleme habe, könne ja für ein paar Jahre seinen Beruf aufgeben.
Diese Grundrechtsblindheit – „Lauterbach’s Army?“ – frappiert den Beobachter umso mehr, wenn er sie etwa mit der Grundrechtssensibilität vergleicht, die der Senat vor wenigen Jahren etwa vereinzelten Transsexuellen entgegengebracht hatte, die darüber unfroh waren, sich auf amtlichen Dokumenten zwischen „Herr“ und „Frau“ entscheiden zu müssen. Dies sei eine durch nichts zu rechtfertigende Grundrechtsverletzung, meinte der Senat damals mit 7:1 Stimme (Beschluss vom 10. Oktober 2017, 1 BvR 2019/16). Ganz anders als ein mit der Drohung des Berufsverbots durchgesetzter Zwang, sich einer experimentellen Gentherapie mit unbekannten Langzeitfolgen unterziehen zu müssen, wodurch die Ausbreitung einer Erkältungskrankheit vermindert werden soll.