Tichys Einblick
Indizien dafür und dagegen

Giftgasangriff in Mariupol? Was bisher bekannt ist

In Mariupol soll es einen Giftgasangriff gegeben haben. Die Ukraine und westliche Staaten untersuchen den Vorwurf, Russland dementiert. Führer der pro-russischen Separatisten kündigten einen solchen Angriff vorher an - mehrere Indizien sprechen aber auch dagegen. Ein erster Überblick.

IMAGO / Xinhua

„Und danach, denke ich, muss man sich an die Chemiewaffen-Truppen wenden, die einen Weg finden, die Maulwürfe aus ihren Löchern zu räuchern.“: Die Androhung des Sprechers der prorussischen Truppen in Donezk, im Kampf um Mariupol Giftgas einzusetzen, ging am Montag um die Welt. Nun berichten verschiedene Medien über einen möglichen Giftgas-Einsatz durch Russland. Dabei berufen sie sich maßgeblich auf Aussagen des Asow-Regiments.

Eine Drohne habe „eine unbekannte Substanz“ über der Stadt abgeworfen, zitiert die Bild eine Mitteilung der Miliz. Der ehemalige Asow-Kommandeur Andryj Bilezkyj berichtete auf Telegram von drei Personen mit Vergiftungserscheinungen, darunter Atembeschwerden und Bewegungsstörungen. Auch die ukrainische Abgeordnete Iwanna Klympusch erklärte auf Twitter ähnliches, berichtete ebenfalls von Menschen, die an Atemnot litten. „Wahrscheinlich Chemiewaffen!“, schrieb sie. Präsident Selenskji warnte am Dienstagabend vor dem Einsatz von Chemiewaffen, bestätigte jedoch nicht, dass dieser stattgefunden hätte. Petro Andryuschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters von Mariupol, betonte auf Telegram, dass „die Informationen über den Chemiewaffenangriff derzeit nicht bestätigt sind“. „Details und Klarstellungen“ wurden zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Er warte auf „offizielle Informationen vom Militär“.

Auch der öffentliche-rechtliche ukrainische TV-Sender Suspilne berichtete, es gebe keine Bestätigung für den Einsatz solcher Stoffe durch offizielle Stellen. Militärquellen hielten die Wahrscheinlichkeit eines Chemiewaffenangriffs durch die russische Seite jedoch für „sehr hoch“. Die prorussischen Separatisten hingegen bestritten den Einsatz am Dienstag. Sprecher Eduard Basurin wurde von der Nachrichtenagentur Interfax mit den Worten zitiert, die Separatisten hätten „keine chemischen Waffen in Mariupol eingesetzt“.

Westliche Stellen, u.a. die britische Außenministerin Liz Truss erklärten, es gäbe Hinweise auf einen solchen Vorgang, diese würden nun geprüft werden. Die Situation ist unklar.

Allerdings hat Russland selbst seine deklarierten Chemiewaffenbestände 2017 vernichtet. Andere russische chemische Kampfstoffe, wie das in Großbritannien vom russischen Geheimdienst eingesetzte Novitchok, erscheint für den Kriegseinsatz ungeeignet – die Dekontamination wäre für Besatzungstruppen langwierig und umständlich. Gesicherte Informationen über einen russischen Schatten-Bestand gibt es kaum.

Gegen den Einsatz von Giftgas würde die militärische Lage in Mariupol sprechen. Die beiden Kriegsparteien kämpfen im Häuserkampf um die Stadt, die Stellungen sind teilweise nur wenige Meter von einander entfernt. Giftgas könnte hier leicht auch eigene Truppen treffen. Zudem häuften sich zuletzt Berichte, wonach der ukrainische Widerstand in der Stadt vor dem Zusammenbruch stünde.

Allerdings gelingt es Russland seit Wochen nicht, die eingeschlossene Stadt im Kern zu erobern – trotz Aufgebot von erheblichen, schwer bewaffneten Truppenteilen. Insbesondere im Stahlwerk der Stadt ist der Widerstand weiterhin erbittert. Möglicherweise könnte der Einsatz von Giftgas hier also der Weg sein, die für Russland festgefahrene militärische Situation zu verbessern. Putin und sein neuer Kommandeur benötigen schnelle Erfolge.

Insgesamt ist die Informationslage aus der eingeschlossenen Stadt aber extrem schwach.

Anzeige
Die mobile Version verlassen