Im ersten Teil wurde dargelegt, dass der Vernichtungskampf Putins gegen die Ukraine keiner tatsächlichen Ratio folgen kann. Welche Erklärung es dennoch geben könnte, ist Inhalt der nachfolgenden Überlegungen.
Die Legende von den Faschisten
Aufschlussreicher als die von Putin bemühten Narrative von der Nato-Bedrohung und einem Genozid in der Ukraine ist die Erzählung von den Nazis und Faschisten, die die Ukraine angeblich quälten. Ivan Rodionov, als Chefredakteur des Berliner Ablegers des russischen Staatssenders RT Putins Mann für Kreml-Propaganda im deutschsprachigen Raum, erklärte mir in einem freundschaftlich geführten Gespräch im Anschluss an eine gemeinsame Talkshow recht detailliert, dass diese Nazi-Erzählungen beim russischen Volk tiefe Emotionen auslösten. Deswegen stehe Russland vorbehaltlos hinter Putins Vorgehen in der Ukraine.
Kurzum: Nichts verfängt bei dem einfachen Russen mehr, als jene vom KGB und der Sozialistischen Internationale kultivierte Hasserzählung gegen das, was dort als Faschist bezeichnet wird.
Ganz im Sinne der kommunistischen Lesart ist ein Faschist auch für einen Putin jeder, der zwei Grundbedingungen erfüllt: Der Faschist ist erstens gegen die Weltherrschaft des Kommunismus und gegen diesen überhaupt, sowie zweitens jemand, der den reaktionären, bürgerlichen Vorstellungen von souveränen Nationalstaaten anhängt.
Es liegt auf der Hand, dass diese Kopplung notwendig ist, denn die kommunistische Weltdiktatur des Proletariats verlangt zwangsläufig den sozialistischen Internationalismus in der Überwindung eben jener bourgeoisen Nationen, die zudem in dieser Erzählung die alleinige Verantwortung dafür tragen, dass es regelmäßig zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, welche erfahrungsgemäß nur zwischen Nationalstaaten stattfinden können.
Der ukrainische Nationalismus ist Faschismus
Naheliegend insofern, dass die Faschisten-Erzählung nicht nur der ungeteilten Zustimmung des Durchschnittsrussen zur „militärischen Spezialoperation“ im Nachbarland dienen sollte, sondern dass Putin auch selbst zutiefst davon überzeugt war und ist, es in der Ukraine tatsächlich mit Unmengen jener Faschisten zu tun zu haben. Schließlich verstößt allein schon die Vorstellung von einem ukrainischen Volk, das sich selbst in einem Nationalstaat organisiert, nicht nur gegen die großrussische Nationalphantasie, sondern per se gegen die sozialistische Internationalismus-Doktrin.
Wir dürfen hierbei unterstellen, dass Putins großrussische Vorstellungen nur unbewusst einer identischen bourgeoisen Gedankenwelt entspringen – in seiner sozialistischen Erziehung prägt ihn hingegen immer noch die Vorstellung, dass das einst sowjetische Russland gleichsam nur der erste Kristallisationspunkt des weltumspannenden Internationalismus ist auch dann, wenn der Sozialismus sich als Gesellschaftsform in Putins Vorstellungen ebenso überlebt hat wie die Demokratie. Die antifaschistische Ablehnung des Nationalstaats übrigens eint Putin beispielsweise mit Angela Merkel, die in ihrer DDR-Prägung mit einer Nation auch nichts anzufangen wusste – vor allem nicht mit ihrer eigenen, der deutschen, deren Wohl zu dienen sie dennoch offenbar in einer Anwandlung von politisch-pragmatischer Mogelei mehrfach geschworen hatte.
Als plötzlich Hass des Putins Gesicht verzerrte
In der konkreten Situation, in der Putin nun seinen Überfall auf das Nachbarland zu begründen suchte, bediente er sich insofern sehr rational auch jener kommunistischen Faschismuserzählung, um sein Volk hinter sich zu einen. Doch zudem geschah etwas, das jene westliche Vorstellung einer Putin gern zugeschriebenen, rationalen Intelligenz in ihren Grundfesten erschütterte.
Wirkte der Herr des Kreml bei seinen Auftritten ohnehin schon aufgeschwemmt und etwas unkonzentriert, so wandelte sich sein Gesicht an einer Stelle zu einer hassverzerrten Fratze, als er, ohne Namen zu nennen, gegen die demokratisch gewählte Führung der Ukraine als von einer „Bande von Rauschgiftsüchtigen und Neonazis“ geiferte.
Hier brach sich etwas Bahn, das ganz tief unter der sonst so stoischen Fassade des KGB-Mannes lauerte. Etwas, von dem Insider berichten, dass es immer dann geschieht, wenn Putin sich persönlich angefasst fühlt. Der sonst so scheinbar kühl abwägende Politiker wird unvermittelt zu einem verbalen Schläger, der im in Leningrad erlernten Gossen-Jargon rhetorisch um sich prügelt. Erfahrungen dieser Art mussten schon andere machen beispielsweise dann, wenn sie es gewagt hatten, auf Pressekonferenzen Fragen zu stellen, die Putin missfielen, weil sie seine Kompetenz zu hinterfragen schienen.
Was aber könnte es sein, das Putin mit Blick auf Kiew derart aus der Rolle fallen und zu einem hasserfüllten Berserker werden lässt?
Die Antwort auf diese Frage lässt sich möglicherweise in einem Vorgang finden, der für westliche Beobachter derart fern der Vorstellung liegt, dass statt dieser möglichen, überaus simplen Antwort ständig nach hintergründigen, machtpolitisch definierten Ursachen und Begründungen suchen lässt.
Um diese mögliche, simple Antwort dennoch geben zu können, müssen wir ein paar Jahre zurückspringen.
Die Antwort gibt eine Sitcom
Im Jahr 2015 – Putin hatte gerade die Krim annektiert und den Osten der Ukraine faktisch in Besitz genommen – produzierte eine ukrainische TV-Produktionsgesellschaft mit dem Namen „Kvartal95“ etwas, das als Sitcom bezeichnet wird. Eine Sitcom ist ein Projekt, bei dem die einzelnen Folgen keinem von Anfang bis Ende durchdachten Drehbuch folgen, sondern die Leitidee situativ von Folge zu Folge auch mit viel Improvisation weiterentwickelt wird. Das hat zur Konsequenz, dass manche Handlungsstränge plötzlich verschwinden können oder sich angerissene Dramaturgien unerklärt umkehren. Naheliegend, dass dieses auch bei dieser Sitcom festzustellen ist – das allerdings hat nichts mit Putin zu tun.
Die Sitcom, die sich der russischen und der ukrainischen Sprache bedient, wurde in diesen Ländern zu einem unerwarteten Erfolg, und ihr Hauptdarsteller, ein jüdischer Ukrainer, der sich einen Namen als Comedian gemacht hatte, erst zum Star und dann in der realen Welt zu jenem Präsidenten, den er in der Sitcom verkörperte. Es dürfte unnötig sein, den Titel der 23 Folgen von jeweils rund 20 Minuten Dauer an dieser Stelle zu erwähnen – der Vollständigkeit halber tun wir es dennoch: Sie heißt auf Ukrainisch „Sluha narodu“ und im verwandten Russisch „Sluga naroda“, was beides auf Deutsch „Diener des Volkes“ bedeutet.
Man kann es so sagen: „Diener des Volkes“ war es, was den Hauptdarsteller Wolodymyr Selenskyj erst zum Star und dann am 21. April 2019 mit einer Zustimmung von knapp 73 Prozent in der Stichwahl zum Präsidenten der Ukraine machte.
Der Schauspieler verkörperte durch seine unerwartete Wahl an sich schon etwas, das dem mächtigen Nachbarn im Kreml überhaupt nicht gefallen konnte. Denn die überzeugende Zustimmung, die Selenskyj zum Politiker machte, verknüpfte dieser unverhohlen mit der Feststellung, dass ähnliches in allen Ex-Sowjetrepubliken möglich sei, wenn das Volk es wolle. Das konnte und musste durchaus als Kampfansage gegen jenen Putin verstanden werden, der vor nichts mehr Angst hat als davor, dass auch sein russisches Volk es wagen könnte, sich von ihm zu emanzipieren.
Eine Sitcom, die mehr als Komödie ist
Das allerdings allein ist es nicht, was das Verhältnis Putins zu Selenskyj prägt. Die eigentliche Ursache ist in jener Sitcom zu suchen und zu finden, in der das Kvartal95-Team nicht nur eine umfassende Beschreibung der ukrainischen Realität mit ihrer Korruption, dem allgegenwärtigen Nepotismus und den strippenziehenden Oligarchen im Hintergrund liefert, sondern auch wiederholt an die Ukrainer appelliert, dieses „System des Proletariers“, wie es explizit bezeichnet wird, endlich zu überwinden.
Unverhohlen auch propagiert Selenskyj alias Wassyl Petrowitsch Holoborodko die nationale Identität der Ukrainer und ihr natürliches Recht, selbst über ihr Geschick zu entscheiden. Dazu gehört aus Sicht des Dank Crowdfunding unerwartet gewählten Sitcom-Präsidenten unausweichlich die Westbindung der Ukraine und das Ziel, Mitglied der Europäischen Union zu werden – wenngleich die zwar humoristisch vorgetragene, aber dennoch offensichtliche Darstellung der ukrainischen Binnenverhältnisse verstehen lässt, warum ein solcher Weg noch vor mancher Hürde stehen muss.
Ein Auftritt Merkels
Gleichwohl ist es einer von vielen unterhaltsamen Höhepunkten, als Holoborodko auf dem Fußweg zu seinem Amtssitz plötzlich einen Anruf auf Smartphone erhält. Am anderen Ende der Leitung meldet sich das Bundeskanzleramt, das nach der bejahten Frage, ob sie mit „dem Präsidenten“ verbunden seien, sofort die Verbindung zu Angela Merkel herstellt. Die damals wichtigste Frau Europas hält sich nicht lang mit Vorrede auf, sondern platzt sofort heraus: Es sei ihr eine besondere Freude, dem Präsidenten zur Aufnahme in die EU zu gratulieren.
Die floskelreiche, gegenseitige Freude springt ein wenig hin und her, bis Holoborodko sagt, dass das ukrainische Volk Merkel zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet sei. Darauf eine kurze Schrecksekunde – und Merkels Nachfrage: Wieso Ukraine? Sie spreche doch mit dem Präsidenten von Montenegro!
Holoborodko klärt, nun schon sichtlich entgeistert, auf – die Telefon-Merkel macht es kurz, vermeldet ein „falsch verbunden“ und bricht das Gespräch ab. Holoborodko ist am Boden zerstört.
Wer sich das Vergnügen machen möchte, diese und andere gut platzierte Spitzen im Original anzuschauen: Bei arte läuft gegenwärtig das Original mit deutschen Untertiteln, abrufbar auch über die dortige Mediathek.
Drei kräftige Spitzen gegen Putin
Es sind solche Szenen, die die gut besetzte Sitcom nicht nur lebensnah, sondern auch unterhaltsam machen. Und dazu gehört neben Merkel, die als Finanzquelle des maroden ukrainischen Staatshaushalts gleichsam ständig über allem schwebt, auch Wladimir Putin als ständige Bedrohung für den jungen ukrainischen Staat. Dreimal wagte es die Kvartal95-Crew dennoch und gerade deshalb, den Präsidenten des Nachbarlandes zwar indirekt, dennoch aber unmittelbar in den Mittelpunkt ihrer Satire zustellen.
In der ersten Szene betritt der frisch inthronisierte Präsident das ukrainische Parlament, dessen Abgeordnete, alle eher am eigenen als am Wohl des Volkes interessiert, sich wie üblich lärmend fast schon prügeln über irgendwelche belanglosen Anträge. Holoborodko möchte zu ihnen sprechen, ist aber angesichts des Tumults chancenlos – bis er laut in den Saal ruft: „Putin wurde gestürzt!“. Sofort herrscht Stille, Selenskyj/Holoborodko kann seine Ansprache halten.
In der zweiten, deutlich später platzierten Szene herrscht wiederum Tumult. Dieses Mal sind es aufgebrachte Bürger, die dem Sitcom-Präsidenten angesichts von Reformen, die Holoborodko auf Druck der Weltbank durchsetzen musste, ein ständiges „Schäm Dich, schäm Dich“ entgegenschleudern. Wieder versucht der Präsident, sich Gehör zu verschaffen. Wieder chancenlos. Bis ihm die Situation im Parlament einfällt und er erneut „Putin wurde gestürzt!“ ruft. Sofort Ruhe – und Selenskyj leise zu seinem Begleiter: „Das funktioniert immer!“
Werden bereits diese Szenen einem Putin im Kreml mehr als despektierlich erschienen sein – und wir dürfen unterstellen, dass er die Sitcom spätestens gesehen hat, als Selenskyj realer Präsident geworden war -, so setzt das Team dem in der Abschlussfolge als tatsächlich letzte Sequenz das Sahnehäubchen auf.
Als das unbestechliche Holoborodko-Team in der biederen Wohnung der Eltern einen ersten, wichtigen Sieg über die Korruption feiert, indem es den mit Stanislaw Boklan perfekt besetzten Ministerpräsidenten und zynisch-eloquenten Strippenzieher in einer Liveshow entlarvt hatte, klingelt wieder einmal das Smartphone des Präsidenten. Der, in Feierlaune, gibt das Ding einem Kumpel, der annimmt, um abzuwimmeln. Doch es kommt anders. Der Mittelsmann wendet sich etwas irritiert an Selenskyj/Holoborodko: „Für Dich. Der Präsident der Russischen Föderation.“ Darauf die ungläubige Rückfrage des total Überraschten: „Putin???“. – „Nein, der Neue!“.
Damit endet die Sitcom.
Putin wird zutiefst beleidigt sein
Es ist offensichtlich, dass der uneingeschränkt humorlose Putin im Kreml neben der Despektierlichkeit spätestens diesen Abschluss als persönliche Attacke auf seine Präsidentschaft aufgefasst haben wird. Und wir können davon ausgehen, dass das Team um den späteren Präsidenten der Ukraine es auch genauso gemeint hat. Allerdings dürften die Akteure 2015 noch nicht davon ausgegangen sein, dass ihre gut gemachte Satire durch die Wahl Selenskyjs tatsächlich Realität werden würde. Für Putin allerdings müssen diese hintergründigen Angriffe auf sein zunehmend entrücktes Selbstverständnis eine tiefe Kränkung dargestellt haben – der sich zudem das ukrainische Volk in Gänze schuldig gemacht hat, als es den Chef einer „Bande von Rauschgiftsüchtigen und Neonazis“ 2019 zu seinem Präsidenten machte.
Und so sollten wir bei allen Analysen und der Suche nach den globalpolitischen Zielen des Wladimir Putin auch bedenken, dass der eigentliche Auslöser seines terroristischen Überfalls ein überaus unmenschlich-menschlicher sein könnte: Die Rache eines zutiefst beleidigten Psychopathen dafür, dass es ein unbedeutender Gaukler und dahergelaufener Schauspieler sowie dessen ukrainische Faschistenbande gewagt haben, ihn, den unantastbaren Präsidenten der Supermacht Russland, auf solch erniedrigende Weise der Lächerlichkeit preiszugeben.
Vielleicht finden wir hier zudem sogar die Erklärung für jenes ominöse „Z“, welches auf allen Fahrzeugen der Terrorarmee prangt, die in die Ukraine eingefallen ist. Denn das lateinische „Z“ ist die Transkription des kyrillischen „З“. Und dieses wiederum ist in der russischen Schriftsprache der erste Buchstabe des Nachnamens des ukrainischen Präsidenten, welcher wiederum im Englischen mit einem „Z“ beginnt. Kann es also sein, dass es sich bei dem gesamten Überfall auf das Nachbarland als „Operation Zelensky“ ursprünglich nur und ausschließlich darum drehte, dass Putin seine persönlichen Rachegelüste an einem Schauspieler ausleben wollte, der zum Präsidenten wurde? Dafür spräche zumindest der schnelle Vorstoß auf Kiew über Weißrussland und die umgehende Aufforderung Putins an das ukrainische Militär, die „faschistische Bande“ in Kiew abzusetzen und zu inhaftieren. Der nun erfolgende Umweg über den Süden und Osten des Landes wäre dann nichts anderes als der verzweifelte Versuch der Moskowiter, doch noch irgendwie das Gesicht zu wahren und am 9. Mai irgendetwas als Sieg des Fehlschlags verkünden zu können. Die möglichen Rachegelüste eines Leningrader Straßenschlägers auf dem Sessel des Präsidenten des flächenmäßig größten Landes der Erde wären damit allerdings nicht befriedigt.
Zugegeben auch: Die Suche nach politischen und sonstigen, tiefsinnigen Beweggründen dafür, dass der Präsident Russlands sein eigenes Volk durch den Überfall auf ein Nachbarland zutiefst beschädigt und zudem zum Massenmörder an Unschuldigen wird, ist ohne Zweifel spannend und bleibt unverzichtbar. Vielleicht aber auch ist die ganze Angelegenheit tatsächlich derart einfach und simpel mit einer tiefen, persönlichen Kränkung zu erklären, die zu verschleiern sich Putin komplexe Russlandsbedrohungs- und Genozidszenarien ausgedacht hat.
Es wäre zumindest nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine menschliche Befindlichkeit in eine große menschliche Katastrophe geführt hat.