Eine knappe Viertelstunde spricht Anne Spiegel. Sie hat für Sonntag 21 Uhr zur Pressekonferenz eingeladen. Einen Rücktritt verkündet sie nicht. Stattdessen erzählt sie, wie es zu ihren Fehlern gekommen sei, die den Tod von 134 Menschen im Ahrtal befördert haben. Dann macht sie eine Pause. Sie überlegt. Der Kopf dreht sich nach Rechts zu ihren Beratern: „Ich muss es noch irgendwie abbinden“, sagt sie – fragt sie ihre Berater. Dann werden die dunklen Augen groß wie bei einer Disney-Figur, die Stimme wird rührselig, die Tränen sind auf den Punkt da: „Ich möchte mich für die Fehler ausdrücklich entschuldigen.“
Dann verlässt Spiegel die Szenerie. Kein Rücktritt. Keine Fragen. Schon gar keine kritischen. Das Phoenix-Team ist so vom Verhalten der Bundesfamilienministerin überrascht, dass es auf jede Einordnung verzichtet – und kommentarlos zur Natur-Doku zurückschaltet. Spiegel hat sich selbst entschuldigt. Das muss genügen. Allerlei Persönliches: Ihr Mann habe 2019 einen Schlaganfall erlitten, die vier Kinder seien nur schlecht durch die Pandemie gekommen und mit der Spitzenkandidatur in Rheinland-Pfalz und dem Amt als Umweltministerium habe sie viel Arbeit gehabt: „Es war zuviel. Das hat uns als Familie über die Grenze gebracht. Wir haben Urlaub gebraucht, weil mein Mann nicht mehr konnte.“
Zehn Tage nach der Flutkatastrophe ist sie daher in Urlaub gefahren. Nach Frankreich. Für vier Wochen. Für einen PR-Termin hat sie diesen Urlaub unterbrochen. Den Wiederaufbau der Energie- und Trinkwasserversorgung an der Ahr habe sie da schon in Auftrag gegeben – 20 Millionen Euro für ein Sofortprogramm bereit gestellt. „Ich war während des Urlaubs immer erreichbar. Und wenn es irgendeinen Anlass gegeben hätte, den Uralub abzubrechen, dann hätte ich das auch sofort getan“, verteidigt sich Spiegel.
In Nordrhein-Westfalen ist Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) zurückgetreten, weil sie nach der Katastrophe zum Geburtstag ihres Mannes auf Mallorca geflogen ist. Spiegel bleibt im Amt. Trotz des Urlaubs – und trotz der massiven politischen Schuld, die sie in der Flutnacht auf sich lud: Ihr Haus hatte am 14. Juli eine Pressemitteilung herausgegeben, dass das erwartete Hochwasser nicht so schlimm werde. Die Ministerin hatte sie persönlich korrigiert und darauf bestanden, dass es im Text „Campingplatzbesitzer:innen“ heißen muss. Als Spiegels Staatssekretär Erwin Manz (Grüne) vom zuständigen Umweltamt andere Informationen über das zu erwartende Ausmaß erhielt, entschied er sich, mit einer Korrektur bis zum nächsten Tag zu warten. Doch in der Nacht starben 134 Menschen allein in Rheinland-Pfalz. Darunter die Bewohner eines Behindertenheimes, die nicht rechtzeitig evakuiert wurden. Spiegel war nicht zu erreichen. Sie war Abendessen gegangen und reagierte nicht auf Mails oder Anrufe, wie sich im Untersuchungsausschuss herausstellte.
Kein Wort dazu. Keine Nachfragen zu den Fehlern möglich. Spiegel tritt auf mit Tränen auf der Wange. Sie erzählt, wie hart es ist, als Umweltministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin durch die Pandemie zu kommen. Ihr ist anzusehen, dass sie sich leid tut. Für Fragen hat sie da keine Kraft mehr. Warum auch. Sie hat den Text abgebunden, der Vortrag war rund. Das Wording steht. Und die großen Augen tun ein Übriges.
Anne Spiegel (41) zog 2011 erstmals in den rheinland-pfälzischen Landtag ein und wurde dort stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen. 2016 wurde sie Familienministerin, 2021 übernahm sie auch das Umweltministerium. Ihre Vorgängerin Ulrike Höfken (Grüne) hatte gehen müssen, weil sie gesetzwidrig nach Parteibuch und nicht nach Qualität befördert hatte. Nach der Landtagswahl im März 2021 wurde Spiegel auch stellvertretende Ministerpräsidentin und wechselte im Dezember als Familienministerin ins Bundeskabinett. Außerhalb der Politik hat sie als Sprachtrainerin gearbeitet.