„S´werd Herbscht, dann sterbscht“ dichtete Dieter Hildebrandt dereinst mit Todesverachtung. Aber davor kommt immer noch die Frankfurter Buchmesse, die aufgekratzte Geisterstunde einer vermeintlich sterbenden Branche. Danach beginnt die stade Zeit. Die Abende werden lang, und manch einer greift, wenn die Fernbedienung nichts hergibt, gelegentlich nicht bloß zum Rotweinglas, sondern sogar zum Buch. Zum guten, hoffentlich.
I.
Muss man das neue Werk der aktuellen Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels lesen? Pünktlich zur Verleihung ist es fertig. Carolin Emcke, die manchmal furchtbar vernünftelnde Kolumnistin, schreibt „Gegen den Hass“ (S.Fischer). Ein Appell! Was erst einmal abschreckt wie alle Appelle. Doch appelliert sie nicht bloß an das Gute im Gutmenschen, sondern an unsere Fähigkeit zu Ironie, Distanz, Kritik. Dafür, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Kurzum, ihre Schrift ist ein „Plädoyer für die offene Gesellschaft“ (zutreffende Eigenwerbung). Ich meine: Das Buch hat einen hohen Streitwert! Denn als ganz selbstverständlich wird die offene Gesellschaft heute in Deutschland nicht mehr akzeptiert. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Als ich kürzlich auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin zwei Veranstaltungen mit namhaften Islamismuskritikern aus dem Iran, Bangladesh, Frankreich und Dänemark moderierte, warf mir die Süddeutsche Zeitung, (deren Kolumnistin Emcke doch ist), tatsächlich vor, ich hätte es darauf angelegt „Publikum wie Gesprächspartner mit dem Kampfbegriff der `offenen Gesellschaft´ zu hypnotisieren.“ Der ist offenbar nicht mehr politisch korrekt und verstößt gegen klammheimliche „Submission“ (Houllebecq, zu deutsch: Die Unterwerfung). Vielleicht sollte das Buch der preisgekrönten Kollegin Emcke erst einmal im Feuilleton der eigenen Zeitung ausgelegt und diskutiert werden.
II.
Überhaupt nicht korrekt, und trotz bösem Witz nicht lustig, ist der Geheimdienstthriller Leon de Winters: „Geronimo“ (Diogenes). Der Holländer (aus dem diesjährigen Gastland der Buchmesse) liebt es, die Dinge auf die Spitze und auf´s schlimmstmögliche Ende hin zu treiben. Seine subversive Phantasie spielt mit unserer Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien. Ist Obama ein Moslem? Wurde Osama in Wahrheit gar nicht getötet? Ein schrilles Vergnügen, auch wenn die Geschichte um einen jungen Moslem und eine afghanischen Christin, der die Taliban Hände und Ohren abgehackt haben, zugleich abgrundtief schwarz und herzzerreißend zugleich ist. Ein Pageturner, den man doch immer wieder absetzt und sich die Augen reibt. Er handelt vom Wahnsinn der Gegenwart und von Menschlichkeit mitten im Wahn. Selbst bin Laden: ein Mensch mit Mitleid und Potenzproblemen. Lesbare Literatur, die viel wagt – und sich vom Mainstream-Feuilleton manchen Rüffel einfängt. Leon de Winters Roman gilt als islamophob. Unsinn – und nur ein weiterer Grund, ihn zu lesen. Unbedingt sollten Sie dazu Bachs Goldberg-Variationen auflegen. Sie sind in diesem atemberaubenden Roman der Gegenspieler des Koran, sind das wahre Wort Gottes.
III.
Romane zu lesen, die nur die eigenen (Vor-)urteile bestätigen, wäre Zeitverschwendung. Hier eine Entdeckung, das erhellende Debut der jungen deutschen Autorin saudischer Herkunft Rasha Khyat, geboren in Dortmund, Kindheit in Jeddah: „Weil wir längst woanders sind“ (Dumont). Eine in Deutschland gescheiterte junge Frau und ein älterer Mann aus den USA fliehen ins Land ihrer Väter, um zu heiraten. (Er zum dritten, sie zum ersten Mal). Sie hat einen Dachschaden, meint ihre deutsche Mutter. Sogar auf der Hochzeit feiern Männer und Frauen getrennt. Die Schwester der Braut, die Ich-Erzählerin, versteht in der Moschee kein Wort. „Der Mond ist aufgegangen“ murmelt sie zum Kommando des Imam und wundert sich über ein Mekka voller McDonalds- und Starbucks-Filialen. Die Protagonisten dieses lakonisch, aber nicht lieblos erzählten Romans kommen nirgendwo an und sind nie irgendwo ganz zuhause. „Die Bewegungswut meiner Ahnen bildet das Dilemma meines Lebens – Gehen oder Bleiben.“ Damit kann man leben. Denn Bewegen heißt Segen – so ein arabisches Sprichwort. Am Ende verrät der Bräutigam der Erzählerin seine global gültige Erkenntnis: „Lass die Finger von der Ehe.“ Leider zu spät. Es ist nie zu spät für einen coolen Roman.
IV.
Er tourt mit seinem Frühjahrsbuch auch noch über die Herbstmesse. Und wird noch touren, wenn´s Lichtlein brennt. Erst ein, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht der Mayzek noch immer vor der Tür. Öffnen Sie auf gar keinen Fall! „Was machen Muslime an Weihnachten?“ (C.Bertelsmann) bleibt das doofste Märchen des Jahres, an das nicht mal mehr kleine Mädchen glauben. Propagandistische Frömmelei im Verharmlosungmodus. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, was Muslime an Weihnachten machen: Buchen Sie ihren Weihnachtsurlaub in einem islamischen Land. Am Golf ist es warm, die Muslime dort sind freundlich und perfekt integriert, ohne Sie dauernd damit zu belästigen.
V.
Der hoch gepriesene Hochliterat Ernst-Wilhelm Händler hat so gut wie allen anderen Schriftstellern eines voraus: Erfahrung als Unternehmer eines mittelständischen Familienbetriebs. Seine niemals beschönigenden Einblicke ins Wirtschaftsleben sind den kapitalismuskritischen Exerzitien anderer schon deshalb überlegen. Jetzt hat er einen Gesellschaftsroman geschrieben. „München“ (S.Fischer), in dem es nicht um Wirtschaft geht. Im Zentrum der Society zwischen Kunstsammlern und TV-Produzenten, zwischen Schumanns Bar und Haus der Kunst, steht Thaddea, Anfang 30, wohlhabende Psychotherapeutin, „menschenscheu und menschendämlich“. Die einzige, die sie therapieren möchte, ist sie selbst. Es wäre „eine Therapie gegen das Dasein“. Oder auch: „Unbehelligt von meinem eigenen Unglück“ zu sein. Es ist ein tadelloses Unglück. Thaddeas tieferes Problem ist, abgesehen davon, dass es mit der Liebe nicht klappt, kein Ziel zu haben. Deshalb möchte sie einen Roman schreiben. Wir folgen einer Melancholikerin, „eingegraben in ironischer Müdigkeit und subtile Trägheit“. So ist auch Händlers Roman. Stilistisch wie immer von faltenloser Präzision. Zeitkritik, die ohne Politik auskommt, tut gut. Hilft es denn, einen Roman zu schreiben? Händler findet für dieses seltsame Tun eine erbarmungslose Beschreibung: „Das Suchen nach und das Finden von Wörtern und Sätzen mutierte von einer ihre Person übersteigenden Routine zu einem eisigen kosmischen Ritual.“ Allein solcher Sätze wegen lohnt die Lektüre.
VI.
Es geht auch ohne Sprachgefühl. Vielleicht gerät Ihnen: „So geht Deutschland“ (Westend) in die Hände. Was wir von Claudia Roth nicht wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten. Dieser Titel geht gar nicht. Aber vielleicht geht ja das Buch. Wohin Deutschland geht, wenn es denn geht, lässt Claudia Roth offen. Besser so.
VII.
Was aus Deutschland geworden ist, ist nachzulesen in Gerhard Stadelmaiers Schlüsselroman „Umbruch“ (Zsolnay), die biographische Komödie in drei Akten des altersbedingt außer Dienst gestellten berühmt-berüchtigten Theaterkritikers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Knapp, scharf, böse – Stilmittel, mit denen er nicht bloß Theateraufführungen vernichten kann, sondern auch, nun, zum Beispiel eine Zeitungsredaktion, am besten seine eigene. „Der junge Mann“, wie er im Roman heißt, ist wohl immer schon mehr als ein Theaterkritiker gewesen – hat sich bloß als Gesellschaftskritiker dummerweise zurückgehalten. „Große Staatszeitung“ nennt er nun sein Blatt, und das ist kein Kompliment. Sarkastisch und frech erzählt er etwa, wie in den Jahren der Wiedervereinigung das Nationale über die Zeitung hereinbrach, wie die „Altardecken über die Schreibtische“ gelegt wurden und man in einer „Mischung aus Ergriffenheit und Verlogenheit“ Feldgottesdienste feierte. Er, der „Hochkultur-Mohikaner“, beschreibt in zorniger Nostalgie den Niedergang des Feuilletons und der Zeitungskultur überhaupt. Die „spielerische, die Welt um und um drehende Deutung und Zuspitzung in der Pointe“ ist aufgegeben worden. Es ist das Elend des Mainstream-Journalismus, in dem sich dieses neue Deutschland spiegelt. Legendäre Feuilletonführer wie Joachim Fest und Frank Schirrmacher sind mühelos zu entschlüsseln. Stadelmaier rechnet natürlich auch ab mit der „Zeitvergegenwärtigungstäuschungsmaschine“, die sich Internet nennt. Sein Roman beweist, wie sehr der erzählerische Schwung eines Buchs dem Tagesjournalismus überlegen sein kann. Vermutlich wird es noch immer Bücher geben, wenn von gedruckten Zeitungen keine Rede mehr ist (wishfull thinking).