Die heute fast als Seherin betrachtete Denkerin Hannah Arendt hatte dem Zionismus keine große Zukunft gegeben. Ein Nationalstaat Israel werde unweigerlich in dauerhafte Kriege und Konflikte mit seiner arabischen Umgebung verstrickt sein und die Juden sollten sich daher mit einer Heimstätte gemeinsam mit den dort schon ansässigen Palästinensern zufriedengeben. Die Zionisten hielten diesen Gedanken, der ohne nationalstaatliche Strukturen mit weitgehender Wehrlosigkeit einhergegangen wäre, für irreal und wollten sich lieber auf wehrhafte staatliche Strukturen verlassen.
Im Rückblick zeigt sich, dass beide recht hatten, denn Israel wurde in der Tat in endlose Kämpfe verwickelt und umgekehrt wäre es den nicht staatlich organisierten Juden in Palästina nicht besser ergangen als ihren Glaubensbrüdern in den arabischen Ländern der Nachkolonialzeit. Sie wurden bis auf winzige Reste aus einer orientalischen Welt vertrieben, in der sie länger ansässig waren als die Muslime.
Von umgekehrter Tragik stellt sich die Situation der Palästinenser dar. Zwar hat es nie eine Nation Palästina gegeben, vielmehr sind die Stämme nachträglich zur Nation Palästina gefügt worden, aber letztlich sind alle Nationen Konstrukte. Und warum sollten die Palästinenser nicht auf eine nachträgliche Konstruktion Anspruch erheben dürfen? Die Ausweglosigkeit des Kulturkampfes rührt aber nicht aus der nationalen Frage, denn auch die benachbarten Nationen sind jung und konstruiert, mit Ausnahme Ägyptens natürlich. Die Bitterkeit des Konfliktes resultiert aus der religiösen Legitimation der jeweiligen Nationen.
Die muslimische Herrschaft über die Region des heutigen Israel dauerte 12 Jahrhunderte und währte damit länger als die israelitische, römische, persische oder christliche. Auch für Muslime gilt Jerusalem als Heilige Stadt. Mohammed soll am Ort des Felsendoms für eine Nacht in den Himmel aufgefahren sein. Selbst im fernen Pakistan sehen es gläubige Muslime daher als religiöse Pflicht, die Herrschaft der Juden über diese Region zu beseitigen. Seit dem Koran gilt das Gebot, dass in Gebieten, in denen einmal Muslime geherrscht haben, keine Ungläubigen mehr herrschen dürfen. Von Beginn an war der Islam immer auch eine Erobererideologie, die profane Interessen an den Besitztümern der Ungläubigen mit der Legitimation im Kampf gegen Ungläubige und Falschgläubige verbunden hatte. Der Sieg bietet Teilhabe an weltlichen Gütern, der Tod im Kampf den Eintritt ins Paradies. Mehr kann den oft überzähligen arbeits- und frauenlosen jungen Männern niemand bieten.
Der Staat Israel ist ohne die zentrale Rolle der jüdischen Religion nicht erklärbar. Zunächst war der Staat weitgehend säkular geprägt. Seit Langem nehmen orthodoxe Juden an Zahl und Bedeutung zu. Die säkularen Israeli anerkennen die Bedeutung der Religion. Orthodoxe Juden erwarten die Ankunft des Messias auf dem Tempelberg nach Errichtung der jüdischen Herrschaft über das Gelobte Land, einschließlich »Judäas und Samarias«, wie sie die palästinensische Westbank nennen. Auch nationalreligiöse Juden betrachten das biblische Land als ihr rechtmäßiges, da von Gott gegebenes Eigentum. Der innerisraelische Konflikt zwischen säkularen und orthodoxen Juden spaltet Israel, zerreißt es aber nicht, da er nach demokratischen Regeln moderiert wird.
Den Evangelikalen der USA gilt heute die Herrschaft der Juden als Vorbedingung für die Wiederkehr von Jesus Christus, der dann ein 1000-jähriges Reich des Friedens errichten und darüber von den Juden als ihr Messias erkannt wird. Dies erklärt neben dem starken Einfluss des Judentums in den USA die enge politische Partnerschaft der USA mit Israel. Ginge es nämlich nur ums Öl, wie gerne gemutmaßt wird, wäre es einträglicher für die USA gewesen, sich mit arabischen Staaten gegen Israel zu verbünden.
Meine Versuche, den Studierenden des Gordon College in Haifa die Vorzüge der Europäischen Union nahezubringen, waren nicht erfolgreich. Mir wurde umgekehrt bedeutet, Europa solle von Israel lernen, wie man der islamischen Bedrohung entgegentritt. Die Europäer seien auch nicht in der Lage, Flüchtlinge und Migranten aus dem Nahen Osten zu integrieren. »Europe is lost« bekam ich in Israel mehrfach zu hören.
Die Israeli sind – jedenfalls gegenüber den Westeuropäern – von einer durch Erfahrung gestählten Illusionslosigkeit gekennzeichnet. Sie können sich ob ihrer von jeher bedrängten Lage nicht erlauben, ihre Umwelt durch die Brille schöner Worte und universeller Werte wahrzunehmen. Sie sehen bereits vor ihrer Haustür, dass Demokratie ohne ihre aufklärerischen Voraussetzungen den Wahlsieg von Hamas, Hisbollah und von Muslimbrüdern bedeuten kann. Während der westliche Universalismus bis hin zu Überdehnungen in andere Kulturkreise geführt hat, war das Judentum nie universalistisch ausgerichtet. Es weiß aus leidvoller Erfahrung um die Notwendigkeit von Selbstbegrenzung und Selbstbehauptung. Zur leidvollen jüdischen Erfahrung gehört, jedwedes Schrifttum ernst zu nehmen. Gemäß palästinensischer Schulatlanten existiert der Staat Israel nicht. In nahezu jeder Buchhandlung Palästinas liegt Hitlers »Mein Kampf« aus und die Belobigungen für Hitler, die man als Deutscher über sich ergehen lassen muss, machen einen schaudern.
Wie unzureichend das von der Europäischen Union hochgehaltene Konzept des Multilateralismus, der Zusammenarbeit mit möglichst vielen Staaten, auf Dauer ist, zeigt sich im Ernstfall des Nahen Ostens. Israel muss dort jedes Land gesondert betrachten, Jordanien anders als den Iran und den Libanon wieder anders als Ägypten. Jeder Staat ist ein Fall für sich.
Zur Wehrhaftigkeit eines Staates gehört eine konsequente Grenzsicherung. Während in Europa Entgrenzungen zeitweise zu einem moralischen Gebot geworden waren, ließen sich solche Illusionen in Israel nicht einmal gegenüber den palästinischen Gebieten durchhalten. Man mag sich über Mauern moralisch erheben, in Israel besteht kein Zweifel daran, dass die Mauer gegenüber der Westbank das Land vor den Terroranschlägen, die vorher Israel an den Abgrund geführt hatten, gerettet hat.
Die Zurückweisung der Zuwanderung aus Afrika ist aufgrund der geringen räumlichen Aufnahmekapazität Israels alternativlos. Auch hier hat Israel den düsteren Vorteil einer Unmittelbarkeit seiner Bedrohung. Europäer müssen, um das Ausmaß ihrer Gefährdung zu erkennen, dagegen in längerfristigen Zusammenhängen denken lernen.
Das tragische Schicksal des jüdischen Volkes demonstriert zunächst, dass derjenige, der sich nicht zu behaupten versteht, in dieser Welt überall zum Opfer werden kann. Israelis wissen, dass Kulturen nicht relativ sind, sondern den Unterschied ausmachen. Dass die Kurden über keinen Nationalstaat verfügen, setzt die Welt keineswegs in vergleichbare Aufregung wie die Staatenlosigkeit der Palästinenser. Da schon aus der koranischen Lehre die Herrschaft einer anderen Religion über Muslime nur dort akzeptiert wird, wo der Islam noch nicht geherrscht hat und noch in der Minderheit ist, wird Israel immer bedroht bleiben.
Auszug aus:
Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen. Edition Olzog im Lau Verlag, 392 Seiten, 24,00 €.