Zwei zentrale Organisationen haben die UdSSR überlebt: die Sicherheitsdienste und die Kirche. Wenig verwunderlich, dass ihre Aushängeschilder, nämlich Wladimir Putin und Patriarch Kyrill I., die Schicksale des Landes bestimmen. Beide gehörten dem KGB an. Kyrill ist keine Ausnahme: Schon sein Vorgänger Alexius II. hatte für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet. Deckname: Amsel (Drosdow). Nahezu alle hochrangigen Würdenträger der russischen Orthodoxie haben eine Vergangenheit im KGB – und gehören dadurch zu einem Putin-nahen Netzwerk.
Putin und Kyill: zwei Ex-KGBler prägen ein Land
Im Ukraine-Krieg hat diese Beziehung eine neue Qualität gewonnen. Kyrill tritt nicht nur als Parteigänger Putins und Anwalt Russlands auf – er mischt sich mit deutlichen Worten in die Debatte ein. Fortwährend betont er den Zusammenhalt, sagt, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, und bestärkt damit die Direktive des Kreml-Chefs, dass es keine souveräne Ukraine geben kann. Ebenfalls der Kreml-Diktion entspringt die Definition des Konflikts: Man hört von Streit, von Auseinandersetzung, von „militärischen Zusammenstößen“, aber selten von Krieg.
Statt Distanzierungen gegenüber dem russischen Angriffskrieg auszusprechen, hat Kyrill stattdessen die russischen Soldaten an ihren Eid für das Vaterland erinnert. Man müsse alles tun, um die „Gefahr eines brudermörderischen Streits mit all seinen Folgen“ abzuwenden. Das Moskauer Patriarchat sieht die Friedenslösung in der Ukraine damit vor allem in einer Befriedung des Nachbarlandes. Die Verantwortung verortet Kyrill klar beim Westen. Nicht Russland oder die Ukraine seien an der Situation schuldig, sondern andere Staaten.
Der „Feind der Menschheit“ werfe durch bestimmte Personen und Institutionen „Lügen in die Beziehungen zwischen unseren Völkern“, erklärte der Patriarch in einer Predigt. Weil sich das russische Volk als stark erwiesen habe, hätten „die Nachbarn, erschrocken über seine Stärke, begonnen alles zu tun, um dieses Volk zu spalten, um Teile dieses Volkes zu inspirieren, dass sie keineswegs ein Volk sind“.
Der Ukraine-Krieg ist auch ein Konflikt zwischen Orthodoxen
Auch die russisch-orthodoxe Kirche, der Kyrill als Patriarch von Moskau vorsteht, hat handfeste Interessen in der Ukraine. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine gibt es schwere Auseinandersetzungen darüber, wem die ukrainischen Orthodoxen untergeordnet sind. Historisch hatte ursprünglich Kiew als Sitz eines Metropoliten die Vorrangstellung in der ostslawischen Orthodoxie. Mit dem Ende der Kiewer Rus und der Unterwerfung durch die Mongolen verlegte der Metropolit seinen Sitz zuerst nach Wladimir und anschließend (1326) nach Moskau. Demnach bezeichnen sich die Amtsträger als Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus.
Mit dem Kollaps der Sowjetunion lösten sich jene Territorien aus dem Staatsverband, die auch jahrhundertelang zum Gebiet des Moskauer Patriarchats zählten. In der Ukraine kam es zum Konflikt: Neben den Orthodoxen, die sich insbesondere im Osten weiterhin als Anhänger Moskaus verstanden, kam es zum Versuch, eine eigene ukrainisch-orthodoxe Kirche zu etablieren, die eine Eigenständigkeit (Autokephalie) gegen Moskau behaupten konnte. Dabei bildeten sich zwei von Moskau unabhängige Kirchen: die Orthodoxe Kirche der Ukraine und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche.
Im Winter 2018/2019 eskalierte dieser Konflikt, als der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus I., der unter den Orthodoxen einen Ehrenrang hat, die Autokephalie der ukrainisch-orthodoxen Kirche unterstützte. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine und die Ukrainische Autokephale Kirche vereinigten sich daraufhin. Erstes Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche wurde der Metropolit Epiphanius.
Für Moskau war das ein politischer wie kirchenrechtlicher Affront. Kiew, das bis heute als Jerusalem des Ostens gilt, entglitt Moskau damit – obwohl es doch seinen Anspruch daraus ableitete, de jure und de facto Herrin der Rus in der Nachfolge Kiews zu sein. Zugleich entriss Bartholomäus die Ukraine damit aus den Händen Moskaus und agiert nun als ihr direktes Oberhaupt nach dem Modus des primus inter pares. Nicht alle orthodoxen Kirchen haben diesen Schritt übrigens akzeptiert.
Moskautreue Orthodoxe in der Ukraine kündigen Kyrill die Treue auf
Diese historische Zäsur hat zu weitreichenden Verwerfungen zwischen Moskau und Konstantinopel, sowie Moskau und Kiew geführt. Kyrill hatte schon bei der Anbahnung der Autokephalie im September 2018 jeden Kontakt nach Konstantinopel unterbunden. Moskau sieht darin eine Grenzüberschreitung, weil ein Patriarch im Gebiet eines anderen eingreift. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko kommunizierte indes im Parlament ganz offen, dass die Gründung einer ukrainischen Nationalkirche geostrategische Interessen abdecken würde. Die Spaltung innerhalb des Klerus nahm man dafür gerne hin. In den Gebieten Donezk und Lugansk ist bis heute nur die russisch-orthodoxe Kirche zugelassen. Bartholomäus dagegen warf Russland vor, die Probleme in der Ukraine selbst verursacht zu haben und nicht imstande zu sein, diese auch wieder zu lösen.
Der Krieg in der Ukraine hat diesen Riss vertieft. Teile der moskautreuen Orthodoxie nabeln sich immer mehr vom Patriarchen ab – weil dieser den Angriff nicht verurteilt. 15 Bischöfe der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats“ haben ihre Priester angewiesen, den Patriarchen nicht mehr im Hochgebet zu nennen. De facto ist das ein Schisma. Die ukrainisch-orthodoxe Kirche hat bereits dazu aufgerufen, dass die bisherigen Moskowiter sich der eigenen Jurisdiktion unterstellen. In einem Beschluss der Synode der ukrainisch-orthodoxen Kirche hieß es dazu Ende März:
„Aufgrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, verstehen immer mehr Geistliche und Gläubige, die unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats in der Ukraine stehen, den wahren Stand der Dinge, sind sich ihrer wahren kanonischen und bürgerlichen Pflichten bewusst und beginnen nach Wegen zu suchen, sich von der russisch-orthodoxen Kirche zu trennen, die durch ihre Führer die Aggression unterstützt hat und inspiriert.“
Das ist aus Moskauer Sicht ein bedrohliches Manöver – und zeigt, dass nicht nur die russische Armee, sondern auch die russische Orthodoxie massiv an Boden verliert. Es verwundert daher nicht der scharfe Ton Kyrills, der etwa von den Wirtschaftssanktionen sagt, sie sollten gezielt dem russischen Volk Leid zufügen. Im Westen mache sich eine „Russophobie“ breit. Die ungeteilte Kirche in Russland und der Ukraine sei eine „Heilsgarantie“. Der Schwur in der 2020 geweihten „Hauptkirche der Streitkräfte Russlands“ ist nicht die erste Aktion dieser Art. Eine unabhängige Rolle als orthodoxer Patriarch, dem das Wohl der orthodoxen Christen in allen Ländern ein Anliegen ist, scheint Kyrill nicht vorzuschweben – sondern eher die eines guten russischen Staatsdieners, dem politische Ziele wichtiger sind als religiöse.
Die Verquickung von Staat und Kirche ist historisch enger als im Westen
Böse Zungen könnten einwenden, dass die Verquickung von Staat und Klerus in Deutschland auch nicht besser ist. Doch wer derlei Vergleiche aufmacht, hat keine Vorstellung von der Bedeutung der russisch-orthodoxen Kirche für den einstigen Zarenstaat.
Hatte das Patriarchat von Moskau die Stellung Russlands zum Beginn der Frühen Neuzeit aufgewertet, wurde den späteren russischen Herrschern die Stellung der Kirche lästig. Während wir umgangssprachlich auch für das 18. bis 20. Jahrhundert vom „Zarenreich“ sprechen, hatte in Wirklichkeit Peter der Große den Zarentitel durch den Kaisertitel ersetzt. Mit ihm wurde Russland ein „modernes“ Imperium, das sich dem Westen annäherte – und dazu gehörte auch die Unterordnung der Kirche unter den Staat.
Damit geschah im absolutistischen Sinne genau jene „Modernisierung“, wie sie für das Zeitalter üblich war: nicht die Trennung, sondern die Verbindung von Kirche und Staat. Mit seiner Kirchenreform schaffte der Kaiser das Patriarchat ab. An seiner Stelle trat der „Heiligste regierende Synod“. Die Kirche wurde damit zum Befehlsempfänger degradiert, die Geistlichen an neue Eide gebunden. Nicht nur die Bekämpfung der Häresie, sondern auch die von Staatsfeinden wurde Aufgabe der russischen Kirche.
Im Russischen Kaiserreich verpfiffen die Priester selbst das Beichtgeheimnis für den Staat
Ein Beispiel, um sich die Tragweite dieser Reform bewusst zu machen: Während in der katholischen Kirche das Beichtgeheimnis so wichtig ist, dass Priester dafür ins Gefängnis gegangen sind oder gar das Martyrium erlitten, verpflichtete Peter den orthodoxen Klerus ab 1722 dazu, „aufrührerische Beichten“ an die Behörden zu melden. Damit war der orthodoxen Kirche auch der historische Weg der katholischen Kirche verbaut, die mit ihrer Soziallehre ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eine mäßigende Wirkung und Einfluss auf die Arbeiterschaft ausüben konnte, indes die russische Orthodoxie im Orbit der Regierung blieb.
De facto war die Kirche damit ein Geheimdienst im Russischen Kaiserreich, mit Lauschposten in jeder Pfarrei und loyales Subjekt in der Propagandaführung. Die Wiederherstellung des Patriarchats nach dem Sturz der Romanows konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass beinahe zweihundert Jahre ein symbiotisches Verhältnis aufgebaut hatten. Doch ohne das alte System verlor die Kirche nicht nur ihren Geiselnehmer, sondern auch ihren Patron.
Zu den Besonderheiten der sowjetischen Geschichte gehört es, dass nach einer intensiven und schmerzhaften Kirchenverfolgung ausgerechnet Josef Stalin auf die orthodoxe Kirche zurückgriff und ihren Nutzen erkannte. Der ehemalige Seminarist sah darin eine Option, eine außerhalb der kommunistischen Kader stehende Organisation an sich zu binden, der er vertrauen konnte – in seinem Wahn sah sich Stalin ständig Verschwörungen ausgesetzt, die seinen Sturz planten. Literarisch hat dieser Trick seinen Ausdruck in George Orwells „Farm der Tiere“ erhalten, in welcher der Rabe, der früher für den Bauern als Spion arbeitete, von den Schweinen begnadigt und zurückgeholt wird.
Das postkommunistische Russland: ein Geschöpf konservativer KGB-Stimmung
Die enge Verzahnung von KGB und Kirche war daher zwangsläufig. Ohne Einwilligung der Kommunisten war die Besetzung eines Bischofsstuhls undenkbar. Da die Geistlichen tief im System verstrickt waren, führte dies jedoch auch zu der weniger bekannten Tatsache, dass der KGB stark von konservativen Elementen geprägt war.
Die Karriere Kyrills war demnach nicht außerordentlich, sondern angesichts der historischen Geschehnisse sogar zwangsläufig. Dass das Russland von heute einem KGB-Staat mit orthodoxem Fundament gleicht, ist keine zufällige Entwicklung, sondern Ausdruck einer alten Partnerschaft. Putins und Kyrills Russland ist das Geschöpf jener konservativen KGB-Stimmung, die den Kalten Krieg prägte. Dass der FSB (Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation) jedoch deutliche Anzeichen der Illoyalität zeigt und dem Patriarchen vonseiten der früher moskautreuen Orthodoxen die Treue aufgelöst wird, offenbart nicht nur die politische Erosion, sondern auch die Brüchigkeit der Fundamente, auf denen das postkommunistische Russische Reich steht.