Langsam wird „Anne Will“ am Sonntagabend zu einer Fortsetzung des „Tatort“ mit allerdings spannenderen Verläufen. Die harte Realität ist mit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine auf die Tagesordnung der Nation und damit auch zu Anne Will zurückgekehrt. Spätestens seit den Bildern der Massaker, die russische Soldaten in einem Vorort Kiews veranstaltet haben sollen, müsste selbst dem größten Ignoranten klar geworden sein, dass die brutalen Schatten des vergangenen Jahrhunderts auch in Europa nicht verschwunden sind. Noch tragischer als die Ereignisse selbst, ist die große Überraschung unserer Spitzenpolitiker in allen Parteien darüber. Wenn selbst die sogenannte politische Elite über Jahrzehnte hinweg wachsende Bedrohungen und ernste Gefahren nicht erkennt, wie sollen dann erst ihre Wähler und Mitbürger das können.
Denn tatsächlich kann man nicht selten einen solchen traurigen Eindruck von der Verfasstheit der Nation bekommen. Dennoch ist er falsch! Helmut Kohl war der letzte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, der in der Nation der Deutschen, im Verbund mit Europa und gemeinsamen Grundwerten, nicht ohne Pathos die Substanz unserer Identität beschrieb. Immer wieder machte er klar, dass die Freiheit der westlichen Welt ein Geschenk ist, aber keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Sie müsse täglich bewahrt und gegen ihre Feinde wehrhaft verteidigt werden.
Mit seinem Nachfolger, Gerhard Schröder, kam die „Spaßgesellschaft“ und eine allgemeine Unverbindlichkeit ins Land, gefolgt von Angela Merkel, die aus ihrer Partei einen alles abnickenden Kaderverein machte und als „Mutter der ewigen Güte“ das Volk in scheinbarer Harmonie einschläferte. Fast unbemerkt zerstörte sie mit dem überstürzten Ausstieg aus der Kernenergie ohne Berücksichtigung der Folgen und ohne Konzept eine der Grundstützen unserer Souveränität. Mit tatkräftiger Unterstützung ihres Vorgängers Schröder, der an die Spitze der russischen Energiewirtschaft gewechselt war, führte sie Deutschland in die Energie-Abhängigkeit Russlands. Die immer diktatorischere Politik Putins nach Innen, bei gleichzeitig ständig zunehmender Aggressivität nach Außen, inklusive massiver Aufrüstung, wurde tabuisiert und kleingeredet. Das Ergebnis wurde gestern Abend bei „Anne Will“ serviert. Fast schon wurde man als Zuschauer selbst angesichts der Mutlosigkeit traurig.
Der Hinweis des Bayern auf die Rolle Putins traf ins Schwarze. Plötzlich erkannte die Runde, dass Diskussionen wie diese der anderen Seite die eigene Schwäche offenbare und damit wertvolle Hinweise liefere. Ein echter Gewinn für die diesmal sehr gut zusammengesetzte Runde waren die ehemalige Grünen-Politikerin Marie-Luise Beck und der stellvertretende Chefredakteur der „Welt“, Robin Alexander. Während die in ihrer Partei über lange Zeit isolierte Beck eindrücklich klar machte, dass Putins Politik auch eine Bedrohung für ganz Europa und damit auch für uns selbst darstelle, kritisierte Alexander die Intransparenz deutscher Waffenhilfe für die Ukraine und einen daraus entstehenden Zweifel an der Standfestigkeit Deutschlands bei seinen Partnern.
Gut getan hat der Sendung die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm, die sachlich auf die ökonomischen Probleme eines Abbruchs der Energiebeziehungen mit Russland hinwies. Gleichzeitig betonte aber auch sie, dass Putin, bei aller Bedeutung der Gas-Öl-Kohle-Milliarden für ihn, auch zu jeder Zeit den Spieß umdrehen könnte. Das Schlusswort übernahm dann die Wissenschaftlerin gleich noch mit: „Früher war ich auch anderer Meinung, aber jetzt stimme ich Markus Söder zu. Unter den jetzigen Gegebenheiten ist eine Rückkehr zur Kernenergie sinnvoll.“ Vielleicht war es das, das Anne Will am Ende die Stimme verschlagen hat.