Erst Mitte März durften/mussten wir anlässlich einer Schulstudie wieder vernehmen, dass unser Nachwuchs immer schlechter, auch immer schlechter sinnentnehmend liest. Das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund hatte 2016 und erneut 2021 je zweitausend Viertklässler aus 111 ausgewählten Grundschulen in Deutschland danach untersucht, wie sich deren Lesefähigkeit verändert hat. Zum Einsatz kam der standardisierte Test der Internationalen Grundschule-Lese-Untersuchung (IGLU).
Der Befund ist erschreckend: Der Anteil der Neun- und Zehnjährigen, die gut und sehr gut lesen können, ist kleiner, der Anteil der schwachen Leser größer geworden. Im Vergleich mit dem Jahr 2016 bedeutet das Ergebnis, dass die Viertklässler des Jahres 2021 gegenüber ihren Alterskollegen von 2016 um ein halbes Schuljahr zurückgefallen sind. Klar, das hat eine Menge mit „Corona“ zu tun. Schulschließungen und Homeschooling haben ihre Spuren hinterlassen. Und das, obwohl aufgrund von geschlossenen Schulen und geschlossenen Sportanlagen viel Zeit zum Lesen gewesen wäre. Zugenommen hat stattdessen die Nutzung digitaler Medien – zum Teil bis hin zur Suchtgefahr.
Aber es gibt auch schulpolitische und schulpädagogische, also hausgemachte Gründe. Kurz: Die sprachlichen Anforderungen in den Grundschulen sind – wie auch in den weiterführenden Schulen – immer mehr abgesenkt worden. Was den muttersprachlichen Unterricht betrifft, so ist in Deutschland Minimalismus angesagt:
- die geringe Stundenzahl des Faches Deutsch zwischen der ersten und zehnten Klasse: nur 16 Prozent der Wochenstunden;
- die Kürzung des Deutschunterrichts in der Grundschule zugunsten von Früh-Englisch;
- das Herunterfahren des curricular ausgewiesenen Grundwortschatzes auf nur noch 700 Wörter aktiven Wortschatzes am Ende der 4. Grundschulklasse;
- die selbst in gymnasialen Klassenstufen oft nur üblichen drei Deutschstunden pro Woche;
- der fortschreitende Verzicht auf die Lektüre von längeren Texten, weil den Kindern ja nur noch kopierte Textauszüge zumutbar seien;
- der Verzicht auf das Auswendiglernen von Gedichten;
- das Zustöpseln von Lückentexten anstelle des Verfassens von zusammenhängenden Antworten;
- „Multiple-Choice“-Tests im Fach Deutsch (!);
- eine Kompetenzenpädagogik, bei der es nicht mehr um Inhalte geht, mit der aus Lehrplänen Leerpläne werden;
- die klassische Literatur in „leichter Sprache“ auflegt: Schillers „Wilhelm Tell“ bis zu Annette v. Droste-Hülshoffs „Judenbuche“ usw.
- eine Rechtschreibreform, die semantische Differenzierungen (viel versprechend vs. vielversprechend; wohl bekannt vs. wohlbekannt) nicht mehr verlangt und eigentlich eher einem Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft gleichkommt.
Eine Rolle spielt auch, dass in den Schulen immer mehr „digitales Lernen“ angesagt ist – als, Edutainment, just-in-time-knowledge, knowledge-machines, instant-learning, Multimedia-Learning, multimedialer Lernspaß, Online-learning, Telelearning, Teleteaching, virtuelles Klassenzimmer usw. Und dann immer wieder, bis hinauf in Abiturprüfungen: PPP-Kompetenz! Power-Point-Presentation-Kompetenz. Vulgo: betreutes Lesen!
Als ob damit der neue Adam geschaffen werden könne, ist selbst unter selbsternannten „Bildungsexperten“ der (Aber-)Glaube ausgebrochen, Multimedia eröffne „kaum absehbare Potentiale für die Steigerung der Effizienz des Lernens“. Brave New School? Digitalisierung als unterrichtliches Anabolikum!
Nein, es ist ein Irrweg, bereits Grundschülern beizubringen, dass man über Google alles Notwendige finden kann. Statt dass die jungen Menschen in einer Bibliothek oder in einem Lexikon etwas nachlesen, picken sie sich – „pädagogisch“ angeleitet – auf bequemem Weg ein paar Info-Häppchen heraus.
Steht es um das Lesen bei Erwachsenen besser?
Laut einer Umfrage der Verbrauchs- und Medienanalyse gab es im Jahr 2021 rund 14,4 Millionen Personen in Deutschland, die mehrmals wöchentlich ein Buch zur Hand nahmen. Die Mehrheit von etwa 16,78 Millionen Befragten hat in der Freizeit nie gelesen. Machen wir uns also nichts vor: Lesefähigkeit und Lesebereitschaft sind bei vielen, vor allem jüngeren Erwachsenen kaum besser ausgeprägt. Bei erheblichen Altersunterschieden: Die Älteren lesen noch Bücher, Zeitungen und Magazine. Die jüngeren Erwachsenen neigen eher zur digitalisierten Information (siehe hier und hier).
Man googelt sich, was man an Info gerade braucht, lauscht den 30 oder 60-Sekundennachrichten in Rundfunk und Fernsehen, hört ein paar mehr oder weniger gestammelte Sätze der immer gleichen Talkshow-Gäste, registriert ein paar Wortfetzen aus den sog. sozialen Medien. Vielen reicht das, und fertig ist die Meinungsbildung. Oft genug faktenfrei. Ohne komplexe, ganzheitliche Betrachtung. Konzentration und Ausdauer für paralleles Recherchieren reichen für mehr oft nicht aus. Das wäre zu anstrengend und könnte obendrein nicht mit eindringlichen Bildern dienen. Die Sprache sowie deren Inhalt und Gehalt fallen hinter die Macht der Bilder zurück.
Eine solchermaßen digitalisierte Download- und Ikonomanie-Gesellschaft mit ihrem Instant-, Häppchen-„Wissen“ wird damit zu einer Gesellschaft ohne Vorrat, einer Gesellschaft der Mini-Kommunikation – einer Gesellschaft auch, die nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden kann. Und zu einer Gesellschaft, die zwar endlos vernetzt ist, aber trotz dieser Vernetzungen einen digitalisierten Masseneremiten hinterlässt.
Dass die neuen Medien Wissen und Information demokratisieren würden, ist jedenfalls eine der großen Lebenslügen des digitalen Zeitalters. Nein, es ist eher umgekehrt: In diesen Medien verbreiten sich eben auch „fake news“ und Verschwörungstheorien global rasend schnell.
Jedenfalls müssen auch Erwachsene aufpassen, dass sie nicht mit einer Sintflut an elektronisch aufbereiteten Häppchen-Informationen einem Tyrannen die Tür öffnen, der sie „vernetzt“, verstrickt, fesselt und ihrer Freiheiten, auch der Vielfalt ihrer Sprache beraubt. Mit Wissensgesellschaft hat das nichts zu tun, wie überhaupt der Protzbegriff „Wissensgesellschaft“ längst zu einem Euphemismus geworden ist.
Das Buch, das Lexikon, die gute Zeitung, das anspruchsvolle Magazin wären geeignete Rettungsboote in dieser Sintflut. Im Interesse auch staatsbürgerlicher und politischer Mündigkeit. Die Themen „Corona“, „Klima“ und „Ukraine“ zeigen, wie wichtig solche Mündigkeit wäre.