Tichys Einblick
Take-or-Pay-Verträge

Deutschland müsste auch bei Gas-Importstopp an Gazprom zahlen

Aufgrund der bestehenden Gas-Lieferverträge müsste Deutschland vermutlich auch dann Gazprom weiterhin bezahlen, wenn man auf den Bezug russischen Erdgases verzichten würde. Was steckt dahinter? Von Henrik Paulitz

IMAGO / ITAR-TASS

Nach jüngsten russischen Forderungen zur künftigen Bezahlung von Gas-Lieferungen verwies die deutsche Bundesregierung auf die bestehenden Verträge und begründete damit ihre Ablehnung einer Zahlung in Rubel. Die Verträge für den Import von Erdgas aus Russland beinhalten aber weitere beachtenswerte Aspekte, über die in der deutschen Öffentlichkeit bislang nicht gesprochen wird.

Lieferverträge, die über das Jahr 2030 hinausgehen

Es geht überwiegend um langfristige Verträge mit Laufzeiten von 10 bis 25 Jahren mit festgelegten Mengen und Preisen. Mehr noch: Es handelt sich um sogenannte Take-or-Pay-Verträge, bei denen die deutschen Importeure eine unbedingte Verpflichtung zur Zahlung übernommen haben, unabhängig davon, ob man das Erdgas tatsächlich importiert oder nicht. Man muss also die für etliche Jahre vor-bestellte Abnahmemenge bezahlen, ob das Gas am Ende fließt oder nicht.

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Um Schwankungen bei der Nachfrage gerecht zu werden (zum Beispiel industrielle Konjunktur, Temperaturen etc.), „werden dabei gewisse Flexibilitäten eingeräumt, oft ein Korridor von 80 bis 110 Prozent der vereinbarten Jahresmenge“, so ein mit den Modalitäten vertrautes Beratungsunternehmen. Daneben werden oft auch monatliche Flexibilitäten vereinbart. Wer diese Mengen unterschreitet, bezahlt die abgenommenen Mengen trotzdem – kann sie aber teilweise dann zu einem späteren Zeitpunkt noch abnehmen: take or pay.

Ein ehemaliger hochrangiger Manager der Gasbranche bestätigt das: Wenn man einen solchen Liefervertrag breche, dann entstünde eine unmittelbare Fälligkeit. Das sei auch keine Frage für ein Schiedsgericht, da es sich ja nicht um eine Ermessensentscheidung handelt. Man könne der Zahlungsverpflichtung nicht entgehen. Seiner Aussage nach wollen die deutschen Erdgasunternehmen die Verträge einhalten. Man wäre auch tatsächlich gut beraten, die Lieferungen weiterhin anzunehmen.

Entsprechend hatte der größte Importeur russischen Erdgases, Uniper, am 7. März mitgeteilt, man verurteile den russischen Einmarsch in die Ukraine scharf. Man werde auch keine neuen langfristigen Lieferverträge für Erdgas mit Russland abschließen. Mit dem Neustart des LNG-Terminalprojekts in Wilhelmshaven plane man eine verstärkte Diversifizierung der Bezugsquellen. Bezüglich der laufenden Verträge hält man aber fest: „Bestehende langfristige Gasimportverträge mit Russland bleiben Teil der sicheren europäischen Gasversorgung.“ Medienberichten zufolge hat Uniper Verträge mit russischen Energieunternehmen, die über das Jahr 2030 hinausgehen.

Sanktionen als höhere Gewalt?

Das oben genannte Beratungsunternehmen geht davon aus, dass die Take-or-Pay-Klausel für die aktuelle Situation nur begrenzt relevant wäre. Die Sanktionen seien als „höhere Gewalt“ zu sehen, was die Erfüllung von Verträgen objektiv unmöglich mache. Die importierenden Unternehmen wären somit vermutlich aus dem Schneider. Es ist aber davon auszugehen, dass die finanziellen Forderungen von Gazprom sich dann an den sanktionierenden deutschen Staat, somit an die Steuerzahler richten würden.

Man würde es sich wohl auch zu einfach machen, davon auszugehen, Moskau würde und müsse das dann einfach so hinnehmen. Dabei ist von Bedeutung, dass Gazprom keineswegs dem russischen Staat alleine gehört: Nahezu die Hälfte der Gazprom-Aktien befinden sich in der Hand privater Aktionäre, ein Großteil aus dem Westen. Die US-Großbank Bank of New York Mellon verwaltete – jedenfalls vor Jahren – rund 26 Prozent der Gazprom-Aktien.

Es dürften also auch sehr viele westliche sowie US-amerikanische Großaktionäre ein ganz erhebliches Interesse daran haben, dass Deutschland seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gazprom zuverlässig nachkommt. Sie wären sicherlich „not amused“, würde Deutschland seinen Vertragsverpflichtungen nicht nachkommen. Sehr schnell könnte Deutschland dann vielleicht doch vor einem internationalen Schiedsgericht verklagt werden.

Erfahrungen der Ukraine

Ausgerechnet die Ukraine kennt die Situation, dass es mit Take-or-Pay-Verträgen mit Gazprom kaum möglich ist, unbeschadet die vereinbarten Gasliefermengen nicht zu bezahlen. Jahrelang litt die Ukraine unter den von Julija Tymoschenko 2009 unterzeichneten Verträgen mit hohen Abnahmeverpflichtungen und hohen Preisen.
Nach jahrelangen Verhandlungen, in denen die ukrainische Nachfolgeregierung vergeblich versuchte, zu günstigeren Konditionen zu kommen, entschied das Land schließlich, zunehmend eigenes Erdgas zu fördern und verstärkt wieder Kohlekraftwerke zur Stromerzeugung zu nutzen. Die Ukraine war 2012 auf dem besten Weg, seine Erdgasimporte zu halbieren.

Gazprom bzw. Russland verwiesen aber auf die bestehenden Take-or-Pay-Verträge und sprachen von ukrainischen „Schulden“ für das zwar teilweise nicht mehr bezogene, dennoch aber zu bezahlende Erdgas. Man beharrte auf Einhaltung der Verträge.

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Es folgten die auch vom westlichen Ausland kräftig unterstützten Maidan-Proteste in Kiew. 2014 kam es zum Regime-Change, zur Annexion der Krim und zum Ostukraine-Krieg. Mit dem Ostukraine-Krieg wurden Kohlebergwerke im Donbas zerstört und außer Betrieb gesetzt, sodass die Ukraine ihre Kraftwerke nicht in geplantem Umfang zur Stromerzeugung mit eigener Kohle befeuern konnte. Mit der Annexion der Krim und der „Nationalisierung“ des ukrainischen Erdgas-Förderunternehmens Tschernomorneftegas auf der Krim war die geplante Ausweitung der Erdgasförderung der Ukraine im Schwarzen Meer nicht mehr durchführbar. Royal Dutch Shell und ExxonMobil stoppten ihre „ukrainischen“ Erdgasprojekte.

Die Krim-Annexion und der Ostukraine-Krieg sorgten insofern dafür, dass die Ukraine ihre angestrebte Energie-Unabhängigkeitsstrategie nicht wie vorgesehen durchführen konnte, so auch die Einschätzung des NATO Defence College in Rom vom April 2015. Vor diesem Hintergrund hatte die Akademie Bergstraße schon vor Jahren damit gerechnet, dass Russland weitere Gebiete entlang des Asowschen Meeres einschließlich der Hafenstadt Mariopol und die Küste entlang des Schwarzen Meeres militärisch unter Kontrolle bringen könnte, um der Ukraine weitere Möglichkeiten der Erdgasförderung zu entziehen. Nun ist es geschehen.

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Der aktuelle Krieg in der Ukraine könnte insofern insbesondere auch der „Ressourcenkontrolle“ dienen, wobei es sich dabei nach den Analysen der Akademie Bergstraße um ein praktisch universelles Kriegsziel handelt. Die reichen Energievorkommen der sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk könnten jetzt dauerhaft unter russische Kontrolle kommen, ebenso wie die reichhaltigen Erdgasvorkommen der Region. Wieder einmal also würde Russland mit militärischer Macht dafür sorgen, das Energie-Angebot knapp zu halten und ein Land daran zu hindern, seine eigenen Energie-Vorkommen nutzen zu können.

Diese Interessen Moskaus bzw. von Gazprom (und seinen auch westlichen Aktionären) sollte man zumindest kennen und mit in Erwägung ziehen, wenn Deutschland derzeit an einer möglichen Neuausrichtung seiner Erdgaspolitik arbeitet. Unterhalb der Schwelle eines Krieges gibt es weitere Möglichkeiten für unfreundliche Aktivitäten, die erheblichen Schaden anrichten können. Ein Cyberangriff beispielsweise auf die Stromversorgung könnte im ungünstigsten Fall zu einer Katastrophe nationaler Tragweite führen.

Die aktuellen Geschehnisse könnte man in Teilen schon als einen gegen Deutschland gerichteten Wirtschaftskrieg interpretieren. Der erhebliche Erwartungsdruck nicht nur der ukrainischen Regierung, sondern auch von Seiten der USA und von anderen westlichen Verbündeten, Deutschland solle seine langfristigen Erdgaslieferverträge nicht einhalten, wohl wissend, dass Gazprom auf eine vertragsgemäße Zahlung Deutschlands bestehen wird, ist schon bemerkenswert.

Würde man diesen Forderungen nachgeben, dann könnte die kuriose Situation eintreten, dass Deutschland jetzt langfristige Lieferverträge für den Bezug von hochpreisigem LNG-Gas u.a. aus den Vereinigten Staaten abschließt, zusätzlich aber weiterhin gegenüber Gazprom zahlungspflichtig wäre, selbst wenn kein russisches Erdgas mehr importiert wird. Irgendwann müsste Deutschland diese „Schulden“ dann möglicherweise doch begleichen.

Licht ins Dunkel
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„Putins Krieg“ ist auch für Deutschland brand-gefährlich. Die Sanktionen könnten in Deutschland weitaus mehr Schaden anrichten, als sie dem Kreml weh tun. Ein potenzieller Erdgas-Lieferstopp bedroht die gesamte Volkswirtschaft. Der Vorstandsvorsitzende des Chemieriesen BASF, Martin Brudermüller, sagte der FAZ, dass die russischen Gaslieferungen bisher die Basis für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und der europäischen Industrie seien. Über die Geschäftsbeziehungen ist direkt oder indirekt ein Großteil der Unternehmen betroffen, gerade auch im Mittelstand. Brudermüller fragt: „Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören?“

Ebenso fürchtet auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) einen „Zusammenbruch unserer Industrie“ als Folge eines Gas-Embargos. Möglicherweise geht es manchen, die jetzt den sofortigen Verzicht auf russisches Erdgas fordern, weniger um das Leid der ukrainischen Bevölkerung und um die Beendigung des Kriegs in der Ukraine als vielmehr um eine drastische Reduktion der deutschen Industrie und des Wohlstands, „um die Klimaziele zu erreichen“. Viele Andeutungen von Studiogästen in Talkshows oder auch bei Phoenix deuten darauf hin, dass man die aktuellen Geschehnisse gerne nutzen möchte für die weitere „Transformation“ Deutschlands.

Ein Einbrechen der Wirtschaft und potenzielle Massenarbeitslosigkeit werden zugunsten eines „Klimaschutzes“ achselzuckend in Kauf genommen, dabei wären solche Entwicklungen dazu geeignet, den gesamten Kontinent zu destabilisieren und den Krieg in Europa auf gefährliche Weise auszuweiten, statt zu beenden.


Henrik Paulitz ist Leiter der Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung. Siehe: www.akademie-bergstrasse.de


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