Über Nacht scheint Deutschland ein anderes Land geworden zu sein. Vergessen schien mit einem Mal das Damoklesschwert der gluckenhaft über der Gesellschaft drohenden Glocke einer Pandemie, von der bis heute niemand so richtig weiß, was er aufgrund der vielen widersprüchlichen Informationen halten soll. Auch die durch den Klimawandel so unheilsschwanger gewordene Natur hat an Bedeutung verloren. Themen, die gerade noch kontrovers diskutiert wurden, wie die Verhunzung der Sprache durch Gender-Blabla, rückten im Pegel des Interesses nach hinten.
Völlig überraschend tauchte ein schauriger Geist aus längst vergangenen Zeiten wieder in Europa auf – die grausame Fratze des Krieges. Nicht nur, dass niemand damit gerechnet hatte, die plötzliche Herausforderung löste einen andauernden Schockzustand aus. Krieg, das war für die jüngeren Generationen etwas für senile, alte weiße Männer, die uns zu später Stunde mit Geschichten der Vergangenheit langweilten. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine brachte eine Besonderheit mit sich, die man aus den Gemetzeln vergangener Zeit nicht kannte. Der Tod von Frauen und Kindern, die rücksichtslose Zerbombung jeglicher Infrastruktur, die endlosen Trecks entwurzelter und verzweifelter Menschen auf der Flucht, flimmerten nur kurz zeitversetzt in die Wohnzimmer unserer satten und gelangweilten Wohlstandskultur.
Alles Behauptungen, die einer ernsthaften Analyse nicht standhalten. Nicht Waffen sind es, vor denen sich die russische Führung, ebenso wie die Politbüro-Clique in Peking, fürchtet. Es ist die Idee der freien Entfaltung des Individuums mit all ihrer Dynamik, ihren kreativen Widersprüchen und eines optimistischen Fortschrittsglaubens. Deren größter Feind ist die Idee der kollektivistischen Zumutung von selbsternannten Priesterschichten, die sich als moralisch höherwertig betrachten. Nicht, dass bei rationalem Denken auch die Deutschen dies nicht erkennen würden. Sie sind nur ganz einfach von der Situation total überfordert. Am liebsten würde man sich in einer geschützten Ecke verkriechen und sich in das ergeben, was da eben so komme.
Ein Beleg für diese These sind die Ergebnisse einer ganzen Reihe von Studien des Instituts für Demoskopie in Allensbach zur Befindlichkeit der Deutschen aus jüngster Zeit. Zwar bekennt sich eine Mehrheit zur Notwendigkeit einer zur Verteidigung fähigen Bundeswehr. Doch irgendwie will man persönlich nichts damit zu tun haben! Wie in so vielen anderen Bereichen besteht das Verlangen, dass irgendwer – die Amerikaner, die EU oder die UNO – das Ganze schon richten würde. Dass dies eine realitätsferne Vorstellung ist, liegt auf der Hand.
Als einzig wirkliche Bedrohung werden abstrakte und, wenn überhaupt, in weiter Ferne lauernde, imaginäre Ängste gepflegt. Angeprangert wird der Kapitalismus als Verursacher der Ungleichheit, beschwört wird der baldige Weltuntergang durch die Klimakrise, angeklagt wird der tägliche Geschlechterkampf, der aus jeder Beziehung eine Shakespeare’sche Tragödie werden lässt.
Wirklich berechtigt sind diese Horrorszenarien nicht. Niemand in den vielen „bunten Bewegungen“ glaubt ernsthaft, dass das Furchtbare noch in seiner Lebenszeit eintreten werde. Das alles wird begleitet durch die Vorstellung, aufgrund eigener moralischer Überlegenheit die gesamte Gesellschaft einer Kulturrevolution zu unterwerfen.
Man muss kein Pessimist sein, um an den Kräften noch verbliebener bürgerlicher Weltsicht, sich diesem entgegenzustellen, zu zweifeln. Die Bundesrepublik Deutschland steht heute vor der Alternative, sich auf ihre eigene Kraft zu besinnen, zu der auch – wie überall sonst auf der Welt – der Stolz auf die eigene Nation gehört, oder sich in einem Akt der Schwäche und vorauseilender Unterwerfung aus der Reihe führender europäischer Nationen zu verabschieden.