In Österreich bekommen Flüchtlinge aus der Ukraine einen „Vertriebenen-Ausweis“ und im Fernsehen korrigieren sich Politiker und Journalisten auffallend hastig von „Flüchtlinge“ auf „Vertriebene“, weil sie die neue Sprachregelung erst noch verinnerlichen müssen.
Warum Flüchtlinge aus der Ukraine Vertriebene genannt werden, dazu lief mir die Tage keine Politiker- oder Journalistenerklärung über den Weg. Natürlich weiß ich, dass sogenannte Volksdeutsche 1945 in großer Zahl ihre Heimat in osteuropäischen Ländern verlassen mussten und deshalb Heimatvertriebene oder Vertriebene genannt wurden. In meinem Geburtsort gab es eine Barackensiedlung mit Familien aus dem rumänischen und serbischen Banat, ihre Kinder gingen mit mir zur Schule.
Der auch Blue Card genannte „Vertriebenen-Ausweis“ ebnet den Ukrainern Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Krankenversicherung und zur Bildung. Grundlage dieser Blue Card ist die auf EU-Ebene verabschiedete Richtlinie, die Vertriebenen aus der Ukraine zunächst für ein Jahr Schutz gewähren will.
Die Richtlinie von 2001 ging mit tatsächlichen Vertreibungen in den Jugoslawien-Kriegen um. In jenem Zusammenhang verstehe ich die Anwendung des Wortes Vertriebene. Falsch ist er jedoch für die Ukraine, denn in der Ukraine kämpfen keine Volks- und/oder Religionsgruppen gegeneinander oder vertreiben sich gegenseitig. Bürger des Landes, fast ausschließlich Frauen und Kinder, verlassen ihr Land, um sich in Sicherheit zu bringen, bis sie möglichst bald zurückkehren können. Wenn der Begriff Flüchtlinge das Geschehen korrekt beschreibt, dann hier.
Schon bei den syrischen Kriegsflüchtlingen fiel auf, dass Frauen und Kinder in den Medien – vor allem bei der Bildauswahl – in den Vordergrund gerückt wurden, während tatsächlich ganz überwiegend junge Männer kamen. Dass diese, wie mir mein syrischer Nachbar erklärte, vor der Einberufung zur syrischen Armee flüchteten, will ich diesen jungen Leuten nicht vorwerfen. Für einen wie Assad möchte ich auch nicht kämpfen, und einer Einberufung zu einer Armee nicht folgen, die in Syrien bis ins Alter von Mitte Fünfzig dauern kann. Wer da nicht dabei sein möchte, den kann ich gut verstehen.
Verstehen kann ich auch, was NGOs und sonstige Befürworter und Förderer der unbegrenzten Einwanderung wollen – gutheißen und akzeptieren allerdings nicht. Die Asyleinwanderung ist unverantwortlich beiden gegenüber: den Migranten und den Einheimischen. Migranten werden mit Versprechen und Erwartungen nach Europa gelockt und für viel Geld geschleust, die sich fast immer nicht erfüllen können. Diejenigen Zuwanderer, die sich erfolgreich im Leben hierzulande etablieren können und immer schon konnten, haben das aus eigener Kraft geschafft. Ich kenne recht viele solcher Beispiele. Mein Nachbar, der jung und mittellos aus Damaskus kam, in Berlin arbeitete, sein Studium selbst verdiente, in Deutschland, der Schweiz und Österreich als Lungenfacharzt arbeitete, ist ein solches Beispiel. Von ihm weiß ich, was es in solchen Ländern bedeutet, einer der überzähligen Söhne zu sein, die ihr Heil fern der Heimat suchen, weil es für sie zuhause keinen Platz gibt und immer der Ruf zu den Waffen droht (5.000 Dollar zum Freikaufen hat nicht jeder).
Womit ich wieder bei der Frage nach dem Unterschied zwischen Flüchtlingen, Migranten und Vertriebenen bin. Migranten lassen sich alle nennen, die sich von irgendwo weg und irgendwo hin bewegen – insofern ein neutraler Begriff ohne jede Wertung. Flüchtlinge sind Menschen, die sich gegen ihren Willen aufmachen, um einer Gefahr für Leib und Leben zu entgehen – politische Verfolgung inbegriffen.
Am 19. September 2016 verabschiedeten die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die „New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migrant*innen”. Als die vier zentralen Ziele des „Globalen Pakts für Flüchtlinge” nennen die UN:
• Den Druck auf die Aufnahmeländer mindern.
• Die Eigenständigkeit und Widerstandsfähigkeit von Flüchtlingen fördern.
• Den Zugang zu Resettlement und anderen humanitären Aufnahmeprogrammen in Drittstaaten ausweiten.
• Die Bedingungen fördern, die eine Rückkehr in das Heimatland in Sicherheit und Würde ermöglichen.
Der Ehrgeiz der Protagonisten der Einwanderungsförderung endet mit der Ankunft von Einwanderern aus dem Süden im Norden, was dafür spricht, dass es diesen Protagonisten darum geht, sich selbst im Glanze ihres guten Tuns zu sonnen, und nicht darum, sich um die realen Einwanderer im Einwanderungsland zu bemühen.
Hinter diesem Geschehen steckt mental eine meist nicht ausgesprochene, aber oft durchscheinende Wertung von ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Flüchtlingen. Flüchten Menschen aus der Ukraine wie damals aus Jugoslawien, suchen nur Weiße bei Weißen Schutz. Wenn von denen einige dauerhaft bleiben, ändert das nichts am weißen Charakter der weißen Länder. Nur mit Migranten aus den nicht-weißen Kontinenten kann in den Augen der Protagonisten der Einwanderungsförderung die koloniale Erbschuld des Nordens nachhaltig überwunden werden.
Ob die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Ukraine-Krieges auch zu einer Klärung der Begriffe Flüchtlinge, Migranten und Vertriebene führen können? Wohl nicht so bald, aber möglicherweise im Zuge des großen Aufräumens mit den Illusionen der woken Gemeinde des Westens insgesamt, also der Weißen, die am liebsten ihre Wohlstands-Privilegien behielten, aber sich nicht so fühlen möchten, und wo immer es geht, auch nicht so aussehen.
Doch erst einmal werden die Freunde der unbegrenzten Einwanderungsförderung mit den Flüchtlingen aus der Ukraine, die Österreichs Staat Vertriebene nennt, Seite an Seite leben, mit Zeitgenossen also, die aus einer traditionellen europäischen Kultur kommen, die mit den woken Vorstellungen des Westens nichts am Hut haben. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich mich an die tatsächlich Vertriebenen in meinem Heimatdorf und anderswo erinnere. Die unterschieden sich damals kulturell von den dort Einheimischen nur im Akzent ihres Deutschen.