Erklärungen oder gar Prognosen im Krieg sind wie das Legen eines Riesen-Puzzles, bei dem das Bild verlorengegangen ist und die jeweiligen Stücke nur mit ihrer Rückseite sichtbar sind: Information ist spärlich, gefiltert – und auf das jeweilige Ziel ausgerichtet. Eigene Recherche vor Ort ist wichtig; aber der Bombenhagel, unter dem Kriegsberichterstatter arbeiten, ist Folge längst getroffener Strategieentscheidungen.
Kriege dürfen nicht vom Ende her analysiert werden; dann steht der Sieger fest und der reklamiert die Strategie für sich. Über Kriege muss man vom Anfang aus nachdenken: Was wollte der Kriegsherr – und wo ist er gelandet? Ist der Sieg, den er vielleicht sogar erringt, der, den er angestrebt hat, oder traten Nebenwirkungen auf, die den Triumph vergällen? Diese Überlegungen folgen einem grandiosen Werk, das in diesen Tagen posthum erschienen ist: Der langjährige Springer-Journalist Herbert Kremp hat ein großes Werk hinterlassen, Morgen Grauen. Von den „Anfängen des Zweiten Weltkriegs“. Der Titel ist bewusst doppeldeutig: „Morgen Grauen“ bedeutet ja, dass das Grauen morgen ausgelöst wird – eher unbeabsichtigt. „Als regelhaft gilt: Wer sich in den Krieg begibt, bleibt nicht sein Eigentümer;“ wer den Krieg beginnt, entscheidet über seinen Anfang, nicht über seinen Verlauf.
Analysieren wir Putins Kriegsplan und Strategie.
Was wollte Putin?
Wovon er träumte, ist mittlerweile klar: Russische Soldaten erhalten von der endlich befreiten Bevölkerung der Ukraine Salz und Brot gereicht wie die deutsche Wehrmacht zu Anfang bei ihrem Vormarsch in der Ukraine; Blumensträuße werden in die Gewehrläufe gesteckt. Präsident Selenskyj flieht mit Hilfe einer französischen Spezialeinheit. Eine Marionettenregierung wird errichtet. Nach spätestens einer Woche sind Selenkyjs Anhänger im Gefängnis oder erschossen, die „Säuberung“ geht landesweit vor sich und die Laternenpfähle sind die Galgen der Putin-Gegner.
Was gewinnt Putin?
Es ist anders gekommen. „Selenskyj ist unser Problem; er hat die Rolle seines Lebens gefunden und spielt sie glänzend“, sagte mir ein Insider am 4. Kriegstag. In der ersten Runde wurde Selenskyj zum Problem, weil er den Widerstandsgeist der Bevölkerung angestachelt und die Bevölkerung in einen totalen Krieg geführt hat, in dem selbst Frauen Flaschen zu Molotowcocktails aufrüsten und mit Styropor versehen – eine napalm-artige Waffe, die auch russische Soldaten fürchten müssen. Selenskyjs persönlicher Mut und Kampfbereitschaft, die offenkundig ausgefeilte Verteidigungsstrategie der ukrainischen Militärs, die hohe Motivation der Ukrainer, dazu die heruntergekommene russische Truppe, haben Putins Strategie komplett scheitern lassen. Man könnte es einen „Strategie-Infarkt“ nennen. Das ist mehr als eine Verzögerung.
Vielleicht gewinnt Putin den Krieg und besetzt die ganze Ukraine; noch hat er eine Armeegruppe unbeschädigt in Weißrussland stehen, die zusammen mit dortigen Militärs den Westen der Ukraine so besetzen könnte, wie er es im Osten und Süden bereits erreicht hat. Es könnte ein Sieg werden – aber was für einer: Die Ukraine ein rauchendes Trümmerfeld, und hinter jedem Busch ein erbitterterer Mann, der eine der vielen Waffen benutzt, um russische Kräfte anzugreifen. Hohe Kosten für die Besetzung fressen die Erträge auf, die ein zerstörtes Land liefern kann.
Und der Westen raschelt nicht nur mit Papier, sondern verhängt Sanktionen und liefert Waffen und Munition, dazu Freiwillige und Hilfe für die fliehende Bevölkerung. Auch nach einem eventuellen Sieg Putins wird man nicht zur Tagesordnung übergehen. Schweden und Finnland erwägen, der Nato beizutreten; selbst Deutschland rüstet auf. Über den Ukraine-Krieg kommen sich die Türkei und Griechenland näher und sprechen miteinander. Die Nato schickt Truppen an ihre Ostgrenze; Polen wird vom europäischen Außenseiter zum Vorposten; das lavierende Ungarn wird sich entscheiden müssen und sich im Zweifel den anderen Nato-Mitgliedern anschließen.
Putin wird von Westen her eingemauert. Selbst Deutschland, Putins Sparkasse, wird von seinem Gas abrücken und sich wieder auf einen Zustand vor dem unglückseligen Paar Schröder/Merkel zurückbewegen, die in der Wirkung wie Einflussagenten Putins Geschäft befördert haben. Putins Abhängigkeit von China wächst, und der Druck des Drachens steigt. Faktisch wird Russland zu einem Rohstoffkeller, der billigst geplündert und dessen sibirische Teile möglicherweise an China zurück fallen. China hat mit Russland eine Rechnung offen; das vergessen oft seine Anhänger und Schönredner.
Das ist die Folge eines Strategie-Infarkts: Der Sieg wird zur Niederlage. Man könnte sagen: dumm gelaufen. Aber auch Putin ist nicht unumschränkter „Eigentümer“ des Krieges, denn der hat eine unerwartete Wendung genommen.
Kann die Ukraine siegen?
Lange war sich Putin sicher, dass er Deutschland und die EU informationell im Griff hat. Er hat Freunde in der Regierung; nennen wir Schröder, Merkel, Schwesig und Steinmeier als prominenteste Unterstützung seiner langfristig sehr klug angelegten Politik des Einlullens und schlimmer noch: der Instrumentalisierung. Sie haben Deutschland die Schlinge in Form diverser Pipelines um den Hals gelegt, an der er jetzt mehr als probehalber zieht. Internet-Trolle fluten jeden Putin-Kritiker mit vorgestanzten Erklärungen. Jeden Tag folgt eine neue Welle: Mit „der unverstandene Putin“ hat es angefangen, mit „er will doch nur spielen“ wurde es fortgesetzt, mit „ist doch gar kein Krieg, sondern nur Strafaktion gegen Nazis“ zur Idiotie gesteigert.
Putins Propaganda für Dumme hat Anknüpfungspunkte an die Realität, nach der die USA auch nicht gut wegkommen, aber sie wirkt durch ihre tumbe Übertreibung unglaubwürdig. So verschwinden Fragen wie die nach zwei Dutzend Biowaffenlaboren im Osten der Ukraine im Schlachtenlärm. Es reicht allerdings, um schätzungsweise ein Zehntel der Deutschen zu Putin-Fans zu machen. Eine seltsame Querfront aus Alt-Linken und der AfD bildet sich; die verrostete Liebe zur Sowjetunion paart sich mit der Frustration der Rechten. Manche fühlen sich von der demokratiefeindlichen Corona-Politik so abgestoßen, dass sie auf Putin als Retter hoffen, unter dem es auch nicht schlimmer werden könnte. Nach ewigen Corona-Lügen glauben sie kein Wort mehr, das Regierung und Presse verlautbaren. Die Spaltung Deutschlands, wie sie unter Merkel und Steinmeier betrieben wurde, trägt Früchte – war das auch geplant?
Selenskyj kann auf dem informationellen Schlachtfeld ähnliche Überraschungssiege verbuchen wie auf dem militärischen. Seine Propaganda erfolgt über das Internet; dezentral, breit, von Freiwilligen getragen, wiederholt, verändert, gesteigert. Putins Anhänger folgen einer starren Argumentationslinie, Selenkyjs Unterstützer sind Partisanen im Netz, die mit Phantasie und Witz operieren. Es ist der Unterschied zwischen Nachbetern und Aktiven. Putin beschimpft die Bevölkerung der Ukraine, Selenskyj ruft die Bevölkerung Russlands auf, ihrerseits den Befreiungskampf gegen das lähmende Moskauer Regime aufzunehmen. Selenskyj nutzt die Intelligenz seiner Unterstützer, Putin bestraft eigenes Denken.
Die Folge ist, dass im Westen die Ukraine stärker erscheint, als sie ist. Putin gilt als Verlierer, der er aber noch keinesfalls ist. Aber nicht nur Waffen entscheiden Kriege, sondern die Meinung über Fakten. Selenskyjs Siegeszuversicht und Mannhaftigkeit beflügelt seine Anhänger, zwingt die Politiker im Westen, ihm immer neue Mittel zur Verfügung zu stellen. Kein Wunder, dass Putin Killerkommandos auf ihn angesetzt haben soll. Europa ist voll gelb-blauer Fahnen und Bekenntnisse. Es ist mittlerweile Europas Krieg, nicht allein mehr der der Ukraine. Die Sympathie der Welt ist immer bei David, nie beim tumben Goliath. Die öffentliche Meinung hat den Vietnamkrieg entschieden, nicht allein Soldaten. Den Propagandakrieg hat Selenskyj gewonnen. Bislang.
Siegt die Ukraine auch militärisch?
Auch hier leidet Putin an den Folgen des Strategie-Infarkts. Weil der Blitzkrieg gescheitert ist, fehlen Soldaten und Material. Dieses kann nur per Eisenbahn geliefert werden. Der Ukraine-Krieg entscheidet sich wesentlich entlang der Bahntrassen. Die Ukraine sprengt Brücken und Bahnanlagen, die Logistik stockt, schon immer eine Schwachstelle Russlands. Das Tempo verlangsamt sich, die Zeit dehnt sich. Die Ukrainer wissen, wie man hinter feindlichen Linien agiert. Die Videos explodierender Russen-Konvois auf den Straßen sind Psychologie; eine zerstörte Bahnbrücke folgenreicher. Die russische Armee scheint sich im Stellungskrieg einzugraben und festzusetzen. Das ist nicht berauschend, aber wirkungsvoll. Denn aus befestigten Stellungen wären sie nur mit schweren Waffen zu vertreiben – die aber fehlen der Ukraine. Der Krieg frisst sich fest, entscheidet sich an der Frage der größeren Reserven und Ressourcen. Helden sterben schnell, die Logistik siegt. Wie lange unterstützt der Westen die Ukraine?
Greift die Nato ein, droht der Atomschlag?
Die Hyperschall-Raketen Russlands auf Lemberg waren eine Art Liebesgruß aus Moskau: Diesen Waffen Russlands haben die USA nichts entgegenzusetzen; es gibt keine Abwehr. Sie sind nicht atomar und bedrohen trotzdem amerikanische Städte unterhalb der moralischen Wirkung der Atombombe. Das soll die US-Politik einschüchtern. Für die Bevölkerung sollte die Drohung mit der Atombombe genügen. Es geht um die Frage: Greift die Nato ein? Berlin zögert. Ein Riss geht durchs Land.
Interessanterweise liegen Erz-Pazfisten und Konservative im Ergebnis nahe beieinander. Bewahrende Konservative sind durchaus kriegsbereit, aber wissen um das atomare Armageddon. Kriegstreiber finden sich eher im Lager von Grünen und bei denen, die man mit Gutmenschen umschreiben kann. Moral kennt keine Kosten, sie triumphiert über nüchternes Abwägen. Selenskyjs Medienpolitik nährt romantische Träume; man sieht lachende Bauern, die russische Panzer in ihre Scheunen fahren. Hübsche Blondinen lernen auf YouTube, wie man trotz lackierter Fingernägel einen russischen Schützenpanzer lenkt, der von seiner Besatzung verlassen wurde.
Wer die Schrecken des Krieges noch in den Knochen spürt, rät zur Vorsicht. Eskalation heißt, das Leid in der Ukraine zu verlängern und nach Westen zu importieren. Zwischen der Wut und dem Entsetzen über Putins kaltblütiges Vorgehen und dem Versuch, den Konflikt wenigstens einzudämmen, wackelt Olaf Scholz mit seinem Kabinett wie der Schwanz eines Opferlamms. Viele Medien fordern täglich: „Haut den Putin“. Wirtschaftlich gesehen haben es Frankreich und andere Länder leichter: Zuverlässig liefern Kernkraftwerke den Strom, den Industrie und Haushalte brauchen.
Wer hilft Putin beim Exit?
Putin hat sich, dummerweise aber auch Europa und die Nato, in eine Sackgasse manövriert. Betrübt zuschauen, wie er ein mutiges 40-Millionen-Volk zu Tode bombardiert, massakriert, egal ob Russe oder Ukrainer, Jude oder Christ, Demokrat oder Nazi? Ihm ist das egal. Er hat das schon hinter sich gebracht; in Grosny, in Aleppo, was schert ihn Odessa? Dem Bürger im Westen kann es nicht egal sein. Exit-Strategien fehlen auf beiden Seiten; auf einen Strategie-Infarkt folgt die Ratlosigkeit auf beiden Seiten.
Historische Analogien drängen sich auf, hier folge ich zum Ende wieder Herbert Kremp: Hitler siegte triumphal in Polen, Skandinavien und schließlich der mörderische Stoß in Frankreichs Herz, mit geringen eigenen Verlusten, ein unerhörter Triumph. Aber er versäumte es, Großbritanniens Heer in Dünkirchen zu schlagen; die Soldaten retteten sich nach Großbritannien, das damit unangreifbar für die Invasion wurde. Ein grandioser Sieg – und Strategie-Infarkt. Denn von Westen näherte sich so unaufhaltsam wie rachsüchtig die britisch-amerikanische Doppelmacht, und im Osten rüstete Stalin zum Krieg, den er schon damals als Chance sah, sich Mitteleuropa zu unterwerfen und das alte Zarenreich geographisch wieder herzustellen. Hitler suchte die Antwort im Feldzug gegen Russland, um der Zwickmühle zu entgehen.
Die Folgen sind so grauenhaft wie bekannt. Strategie-Infarkte führen zum Strategiewechsel, der den Sieg in die Niederlage verkehrt. Der Krieg nährt den Krieg, aus dem Blitzkrieg wurde ein Weltkrieg. Putins Blitzkrieg ist gescheitert, wie vermeidet man den atomaren Weltkrieg, auf den er jetzt zutorkelt? Nur darauf zu warten, dass in Moskau ein Putsch sein Unwesen beendet, ist kindisch. Er sitzt fest im Sattel mit seiner Geheimpolizei. Und nun?
Die Antwort fehlt. Vom derzeitigen Personal in Berlin ist keine Antwort zu erwarten; die Außenministerin will den Krieg feministisch bekriegen und seine Opfer*innen gendern; ansonsten keine Idee. Man hört Putin lachen. Wenn auch gequält. Denn ihm fehlt auch die Antwort. So bleibt Deutschland führungslos und darauf angewiesen, dass die Großmächte es schon irgendwie richten. Hoffentlich.