Tichys Einblick
Einstufung der AfD als Verdachtsfall

Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und ein sonderbares Urteil eines Verwaltungsgerichts

Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes wirkt auch nach dem Erreichen der Einheit weiter und gebietet allen staatlichen Stellen die Aufrechterhaltung des einheitlichen deutschen Nationalstaats und seines Staatsvolkes. Von Ulrich Vosgerau

„Die dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes enthaltene Wahrungspflicht [nämlich zur Wahrung der Identität des deutschen Staatsvolks, Vgr.] gebietet es auch, die Einheit des deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts auf Dauer zu bewahren.“

Das steht nicht im Bundesprogramm der AfD, sondern in der für die einfach-gesetzliche Ausgestaltung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts lange Zeit maßgeblichen Teso-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 21. Oktober 1987, 2 BvR 373/83, BVerfGE 77, 137 [151]).

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Im Hinblick auf die Fortgeltung dieses Verfassungsprogramms spielt es keine Rolle, dass die Deutsche Einheit nun schon seit dreißig Jahren verwirklicht ist. Denn es verhält sich nicht so, dass das Wiedervereinigungsgebot nur so lange gilt, bis die Einheit erreicht ist, und dann nach der Wiedervereinigung die Staatsorgane das Recht oder gar die Pflicht hätten, das wiedervereinigte Deutschland zu beseitigen oder zu zerlegen. Sondern das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes wirkt auch nach dem Erreichen der Einheit weiter und gebietet allen staatlichen Stellen die Aufrechterhaltung des einheitlichen deutschen Nationalstaats und seines Staatsvolkes.

Dies schon deswegen, weil das Wiedervereinigungsgebot kein „kontingentes“ Verfassungsrecht war, das der Verfassungsgeber also auch ganz anders hätte ausgestalten können. Denn das Wiedervereinigungsgebot war und ist – in seiner heutigen Gestalt als Erhaltungs- und Wahrungsgebot – Ausdruck des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts des Deutschen Volkes, das das Grundgesetz selber in der Präambel, dem Schlussartikel 146 und seiner Selbstbestimmungsgarantie aus Artikel 79 Absatz 3 (oft fälschlich als „Ewigkeitsgarantie“ bezeichnet) als vorverfassungsrechtliche Gegebenheit ontologisch voraussetzt.

Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung über den Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR herausgestellt und dann im Teso-Beschluss bekräftigt:

„Wenn heute von der ‚deutschen Nation‘ gesprochen wird […] so ist dagegen nichts einzuwenden, wenn darunter auch ein Synonym für das ‚deutsche Staatsvolk‘ verstanden wird“ (BVerfG, Urt. v. 31. Juli 1973, 2 BvF 1/73, E 36, 1 [17] – Grundlagenvertrag).

Daher ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht verwunderlich, wenn nun das Verwaltungsgericht Köln (Urteil vom 8. März 2022, 13 K 326/21) die öffentliche Einstufung der AfD als „Verdachtsfall“ aufgrund „hinlänglicher tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungswidrige Bestrebungen“ für rechtmäßig erachtet hat und dies hauptsächlich damit begründet, ein „ethnisch verstandener Volksbegriff“ sowie das Ziel, „das Volk in seinem ethnischen Bestand zu erhalten“, seien jedenfalls bei den ehemaligen Mitgliedern des sogenannten „Flügels“ und bei der Jungen Alternative „zentrales Politikziel“. Und dies weiche vom „Volksbegriff des Grundgesetzes“ ab.

Das Grundgesetz selber bildet keinen Volksbegriff, sondern setzt die Existenz des deutschen Staatsvolks als gegeben voraus, wobei unter dem „Volk“ im Sinne des Grundgesetzes nicht die „Bevölkerung“ oder alle Rechtsunterworfenen zu verstehen sind, sondern gerade und nur das deutsche Staatsvolk (BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 1990, 2 BvF 6/89, E 82, 37 ff. – Ausländerwahlrecht I; Urteil vom 31. Oktober 1990, 2 BvF 3/89, E 82, 60 ff. – Ausländerwahlrecht II). Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes stand 1949 das seit 1913 geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vor Augen, dessen Legitimität und Verfassungskonformität damals von niemandem in Abrede gestellt wurde.

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Noch bis 1999 sah das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht eben vor, dass das deutsche Volk eine Abstammungsgemeinschaft bildet und die Staatsangehörigkeit regelmäßig und normalerweise durch Abstammung erworben, also vererbt wird. Diese Festlegung schloss niemals aus, dass geeignete und gut integrierte Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft auch durch Naturalisation erwerben konnten. Wenn also diese Rechtslage zwischen 1949 und 1999 nie jemand für verfassungswidrig gehalten hat und sie es auch nicht war, so kann es keine „verfassungsfeindliche Bestrebung“ sein, wenn man heute der Ansicht ist, dass die Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts seit 1999 – die teilweise auch einen Erwerb der Staatsbürgerschaft qua Geburt in Deutschland ermöglichten und die Voraussetzungen, die im Rahmen von Einbürgerungsverfahren an die Qualifikation und Integration eines Einwanderers zu stellen sind, immer weiter abgesenkt haben – nicht nur vorteilhaft gewesen sind.

Seine gegenteilige Ansicht scheint das Verwaltungsgericht Köln – aber schriftliche Urteilsgründe liegen noch nicht vor – auf ein weitverbreitetes, aber eindeutig falsches Verständnis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über ein Verbot der NPD von 2017 zu stützen (Urteil vom 17. Januar 2017, 2 BvB 1/13, E 144, 20 ff. – NPD II). Dass dieses falsche Verständnis – juristische „fake news“ – sich in den letzten Jahren auch unter Juristen ausgebreitet hat wie Unkraut, ist dabei nicht etwa auf gute Argumente im freien Kampf der Meinungen zurückzuführen, den es ja in der Bundesrepublik wegen der staatlichen Subventionierung und Alimentierung grüner und linker Meinungen ohnehin kaum noch gibt. Sondern es liegt an der ständigen Propagierung dieses Missverstehens durch eine Flut von ausschließlich steuerfinanzierten Publikationen und Propagandaschriften, wobei die unsäglichen sogenannten „Gutachten“ des „Deutschen Instituts für Menschenrechte“ besondere Hervorhebung verdienen.

Dieses nicht selten absichtlich falsche Verstehen der NPD-II-Entscheidung will dem juristischen Fachstab weismachen, ein ethnisch-kultureller Volksbegriff, das Streben nach einem vom bisherigen Mehrheitsvolk im ethnisch-kulturellen Sinne merklich geprägten Staatswesen oder der Wunsch, jedenfalls eine gewisse Mindesthomogenität in der Bevölkerung zu bewahren, seien „verfassungsfeindliche Bestrebungen“. Aber das ist nicht richtig: Kein Bürger und keine politische Partei ist gehalten, Einwanderung in pauschalisierender Weise und ohne Rücksicht auf die Herkunft der Einwanderer gutzuheißen und die „multikulturelle Gesellschaft“ zu propagieren. Selbst Angela Merkel hatte ja noch auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im Herbst 2010 die multikulturelle Gesellschaft für „endgültig gescheitert“ erklärt, und Horst Seehofer hatte dies damals auf derselben Veranstaltung mit Formulierungen bekräftigt, die die AfD heute im Hinblick auf eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz tunlichst vermeidet.

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Nicht jeder ist „Verfassungsfeind“, der im vertrauten Kreise äußert: Unter Helmut Kohl war nicht alles schlecht! Es ist auch nicht „verfassungsfeindlich“, einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff zu vertreten, eine gewisse Homogenität der Bevölkerung in demokratischen Staaten für unabdingbar zu halten oder sich die Erhaltung des deutschen Charakters Deutschlands zu wünschen. So schreibt der Doyen der deutschen Staatsrechtslehre, Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), übrigens SPD-Mitglied und langjähriger Verfassungsrichter, im „Handbuch des Staatsrechts“:

„Der spezifische Charakter der demokratischen Gleichheit […] zielt – über die formelle rechtliche Zugehörigkeit, die die Staatsangehörigkeit vermittelt, hinausweisend – auf ein bestimmtes einheitliches Substrat, zuweilen substantielle Gleichheit genannt, auf dem die Staatsangehörigkeit aufruht. Hier meint Gleichheit eine vor-rechtliche [sic] Gemeinsamkeit. Diese begründet die relative Homogenität, auf deren Grundlage allererst eine auf der strikten Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte aufbauende demokratische Staatsorganisation möglich wird; die Bürger wissen sich in den Grundsatzfragen politischer Ordnung ‚gleich‘ und einig, erfahren und erleben Mitbürger nicht als existentiell anders oder fremd und sind – auf dieser Grundlage – zu Kompromissen und loyaler Hinnahme der Mehrheitsentscheidung bereit“ (Isenee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, Rn. 47).

Für verfassungsfeindlich hielt das Bundesverfassungsgericht das Programm der NPD vielmehr nur deswegen, weil dieses den Eindruck erweckte, ethnische Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaftsrecht sollten dergestalt miteinander identifiziert und in eins gesetzt werden, dass offenbar naturalisierten Deutschen mit Migrationshintergrund ihre Staatsbürgerschaft nachträglich wieder aberkannt, oder deren Verleihung gar für null und nichtig erklärt und sie sogar darüber hinaus und anderweitig entrechtet werden sollten. Dies wären natürlich „verfassungsfeindliche Bestrebungen“. Daraus folgt aber nicht, dass es gegen die Menschenwürde von Ausländern verstößt, wenn eine bestimmte Partei nicht alle einwanderungswilligen Menschen einwandern lassen möchte, sondern nur die besonders geeigneten.

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