Zugegeben: Hart aber Willberger zu schauen, war schon vor dem Ukraine-Krieg meist kein fruchtbarer Zeitvertreib. Aber seit Putins Armee im Bruderland einmarschiert ist, drehen sich die Debatten in öffentlich-rechtlichen Politik-Talkshows nur noch im Kreis. Ein hauptberuflicher Luftproduzent wie Jens Spahn (CDU) allein schafft es, sich in einem Wortbeitrag in drei Ansprüchen zu verheddern: Russland abzustrafen, ohne dass es uns was kostet – und dabei den Klimaschutz nicht zu vergessen.
Genau da liegt das deutsche Problem nach 16 Jahren Merkel. Nach 16 Jahren wertefreiem, technokratischem Umsetzen der tagesaktuellen Meinungsumfragen wissen wir nicht mehr, was wir wollen. Grundsätzlich. Deswegen ist Politik auch so oft planloses Stückwerk wie der ans Gehalt gekoppelte „Tankrabatt“. Wer nicht weiß, wo er hin will, der kann auch den Weg nicht finden.
Am einfachsten ließe sich noch sagen, wir wollen das Musterland des Klimaschutzes sein. Das aus Atom und Kohle aussteigt und trotzdem die Mobilität auf Strom umstellt und das Heizen auch. Machen wir das, werden uns alle anderen Länder mit der Zeit folgen. Bis zum Ukraine-Krieg war das tatsächlich Staatsdoktrin in Deutschland. Und Common Sense. Zumindest in den Medien.
Denn der Zeitgeist ging 16 Jahre lang in diese Richtung. Kein Sendetag vergeht mehr, ohne dass irgendein Format auf ARD, ZDF und Co für den Verzicht auf Fleischessen wirbt. Während die Redakteure immer höhere Gebühren fordern, um ihre eigenen Pensionsansprüche zu sichern, mahnen sie zeitgleich den Gebührenzahler zum Verzicht.
Doch beruht dieses Ziel auf der Degrowth-Philosophie. Auf der Grundidee: Der Westen verzichtet auf einen großen Teil seines Wohlstands und hofft, dass dann die Temperaturen weltweit aufhören zu steigen. Nur: Diese Degrowth-Philosophie ist nicht mehrheitsfähig. Sonst würde die SPD keinen „Tankrabatt“ mittragen und kein grüner Minister den Bückling vor homophoben Despoten machen, um weiter an fossile Energieträger zu kommen.
Aber: Wer genau hingehört hat, konnte die Degrowth-Wünsche von Grünen, SPD, Linken und der Merkel-CDU schon länger vernehmen. Doch den anderen muss man fairerweise zugute halten, dass diese Äußerungen von dem Versprechen übertönt wurden, der Klimaschutz werde sozial gerecht gestaltet. Es war das Versprechen, gewaschen zu werden, ohne nass zu werden. Ein Euphemismus für: Wir werden verzichten, aber ganz so schlimm wird es schon nicht kommen. Das war Heuchelei. Auch. Aber nicht nur.
Die heutige Politik-Generation ist in einem historischen Ausnahmezustand groß geworden, der viele von ihnen glauben ließ, alles kriegen zu können – und auch, dass ihnen alles zustehe. Zum einen brummte unsere Wirtschaft über sieben Jahrzehnte. Zum anderen übernahm eine andere Macht die Kosten für unsere Verteidigung. Beides endet jetzt.
Dass es für die USA nicht hinnehmbar sei, dass sich Deutschland auf Kosten der USA verteidigen lasse, um dann zum Dank mit einem Exportüberschuss deren Wirtschaft zu schwächen, war ein zentrales politisches Anliegen Donald Trumps. Er hat es laut gesagt. Er hat es auf eine unangemessene Weise ausgedrückt. Aber wer glaubt, dass Joe Biden es anders sehen würde – oder irgendein noch zu wählender amerikanischer Präsident – irrt sich gewaltig. Schon gar nicht, wenn kommende Kriege an Don, Weichsel oder Oder stattfinden. Waffenlos und wehrhaft wird Deutschland nicht bleiben können. Die Wehruntüchtigkeit seiner Armee in den Griff zu bekommen, wird eine der wichtigsten Aufgaben für das erste Kabinett Olaf Scholz‘ (SPD) sein. Konsequenterweise hat der Kanzler das schon zur Chefaufgabe gemacht.
Auch der wirtschaftliche Erfolg ist kein Zufall. Das „Wirtschaftswunder“ ist ein Gründungsmythos der Bundesrepublik. Aber es ist eine Lebenslüge, mit der sich die Täternation nach Holocaust und verlorenem Krieg die Seele gestreichelt hat. Dieses Wunder war kein Wunder, sondern beruhte auf knallharten Fakten: Die deutsche Arbeiterschaft war nach den Entbehrungen des Krieges bereit, zu harten Konditionen zu arbeiten. Durch Marschallplan und gebunkerte Kriegsbeute floß Investitionskapital ins Land. Und die anderen Wirtschaftsnationen erließen Deutschland einen großen Teil seiner Schulden. Das „Wirtschaftswunder“ wurde mit volkswirtschaftlichem Kalkül auch von anderen westlichen Nationen herbeigeführt. Nicht aus Liebe zu Deutschland, sondern um es als Bollwerk gegen die Sowjetunion aufzubauen.
Noch immer ist diese deutsche Hoffnung nicht gestorben, Probleme allein mit Geld lösen zu können. Der „Tankrabatt“ ist ein letzter Atemzug dieser Politik. Doch Deutschland geht seine Wirtschaftskraft aus. Nicht mal wegen der 100 Milliarden Euro, die wir an Schulden aufnehmen, um die Bundeswehr auszurüsten. Nicht einmal wegen der 60 Milliarden Euro, die wir in den Klimaschutz investieren wollen. Auch nicht wegen der Kosten für die ukrainischen Flüchtlinge, die gegebenenfalls noch in Millionen-Stärke zu uns kommen.
Denn unser eigentliches Problem lautet nicht, dass uns das Geld ausginge. Unser Problem lautet: Wir verlieren das Potenzial, das Geld zu erwirtschaften. Wer genug verdient, kann Schulden zurückzahlen oder auf großen Fuß leben. Wer das nicht kann, der ist pleite.
Unsere Wirtschaft war schon vor dem Ukraine-Krieg angegriffen. Schlüsselbranchen wie die Autoindustrie wurden aus ideologischen Gründen regelrecht bekämpft. Die Infrastruktur zerfällt, tausende Brücken sind marode. In der digitalen Infrastruktur sind wir ein Entwicklungsland. Wichtige Fachkräfte gehen in Millionenstärke in den Ruhestand. Sie fehlen für die Produktivität. Gleichzeitig steigen die Kosten für Renten und Pflege exorbitant.
Nun kommt die Rohstoffversorgung als weiterer Faktor dazu. Diskutiert wird das bei Hart aber Willberger, als ob es im wesentlichen darum ginge, ob der Liter Benzin 2 Euro oder 2,50 Euro kostet. Das Heizöl 1 oder 2 Euro pro Liter. Das klingt jetzt hart: Aber diese Debatte ist nur die zweitwichtigste. Entscheidender ist die Frage, ob wir noch eine Industrie haben, die ihren Arbeitnehmern ein Einkommen ermöglicht, mit dem sie überhaupt irgendeinen Preis für Benzin oder Öl bezahlen können. Ohne Rohstoffe keine Industrie.
Das trifft aber nicht nur deren direkten Arbeitnehmer. Sondern auch den öffentlichen Dienst. In einer volkswirtschaftlichen Milchmädchenrechnung hat SPD-Chefin Saskia Esken beansprucht, mit ihren Steuern den Staat zu finanzieren. Doch Eskens Verdienst – brutto wie netto – muss letztlich irgendwo her kommen. Es heißt nicht zufällig „erwirtschaftet“ und nicht „erstaatsdienstet“. Das gilt auch für alle, die vom Staat leben, wie all die Musiker, Schauspieler, kurz Kulturschaffenden, die ihr Haus am Subventionssee gebaut haben. Und auch für alle, die direkte Leistungen vom Staat beziehen. Etwa Hartz IV.
Dazu muss der Staat auch investieren: in Beton für Brücken, in Kabel für ein angemessenes Netz, in die Ausbildung der Köpfe, die was aus dem Netz machen – und der Staat muss sicherstellen, dass diese Köpfe ihre Ideen in Produkte umsetzen können und dafür Startkapital bereitstellen. Regulierende Vorschriften müssen bücherweise fallen. Die Verwaltung muss aus dem Faxzeitalter in die Digitalisierung geführt werden. Und ihre Mitarbeiter müssen lernen, dass sie Dienstleister sind und nicht Dienstherren. Auch bräuchten wir ein Militär, das unseren Wohlstand verteidigen kann.
Das alles würde das Land verändern. Ein Musterland des Klimaschutzes wäre es dann nicht mehr. Wer diese Renovierung der Wirtschaft will, muss das offen sagen – anders als die Anhänger des Degrowths es getan haben. Die Frage „Wollen wir ein reiches Land bleiben“ muss klipp und klar gestellt und ehrlich beantwortet werden. Lautet die Antwort nein, ist das ok. Dann müssen wir halt mit den Konsequenzen leben. Auch wenn den wohlstandsverwöhnten Deutschen die Phantasie fehlt, sich vorzustellen, was das bedeutet. Lavieren wir uns weiter durch, werden Spielchen wie „Tankrabatt“ immer häufiger und immer absurder. Wollen wir reich bleiben, ist viel zu tun. Aber uns dafür entscheiden, was wir wollen, das sollten wir unbedingt.