„O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, du Balsam für die Schmerzen der Menschheit.“ Diesen Satz hat ein gewisser Paul Lafargue 1883 in einem Pamphlet mit dem Titel „Recht auf Faulheit“ geschrieben. Lafargue (1841 – 1911) war ein französischer Arbeiterführer (1841 – 1911), und er war der Schwiegersohn von Karl Marx.
Das heißt nicht, dass wir die Faulheit an diesem Tag marxistisch adeln wollen. Nein, aber eine kleine Betrachtung bietet sich an. Denn der Mensch kann nicht nur eine funktionierende Maschine sein. Er braucht Muse und Muße, auch Müßiggang. All dies im Gleichgewicht zwischen Zielstrebigkeit und Entschleunigung. Ein Paradox? Ja, es besteht darin, dass Müßiggang im Moment zwar potentielle Produktivität kostet, sein Nutzen aber darin besteht, dass das Nachdenken, dass Muse (die Göttin) und Muße (der Müßiggang) im Endeffekt höchst produktiv für den Einzelnen und das Gemeinwesen sind.
Klar, wir wissen mit Immanuel Kant: Faulheit ist der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit. Mit anderen Worten: Faulheit und Langeweile sind für diejenigen legitim, die fleißig waren. Freilich wissen wir mit Immanuel Kant auch: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen … gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“ Auf das richtige Maß und die richtige Dosis kommt es an: Nur zu „powern“ geht nicht, sonst ist man bald ausgebrannt. Nur zu „relaxen“ geht auch nicht, sonst verblödet man, und es stottert die gesamte Volkswirtschaft.
Wir brauchen neben der „vita activa“ die „vita contemplativa“, das Zurücklehnen, die lange Weile und die Faulheit; das hat etwas enorm Konstruktives und Positives. Viele Erfindungen der Menschheit gäbe es nicht, wenn die Menschen aus Faulheit nicht Erfindungen gemacht hätten, die ihnen die Arbeit erleichtern und die das Faulsein ermöglichen; man denke an Roboter oder Haushaltsautomaten.
Wir brauchen die Fähigkeit der Gelassenheit (die Fähigkeit, etwas geschehen zu lassen), weil wir sonst im überkanditelten Getue ersaufen. Goethe würde hier Recht behalten: „Es gibt nichts Entsetzlicheres als tätige Unwissenheit.“
Seid nicht „veloziferisch“!
Das ist eine Absage an Velozifer. Es war ebenfalls Goethe, der dieses Kunstwort prägte: „veloziferisch“ – das ist „velocitas“ für Eile und „lucifer“ für den Gott des Lichts bzw. den gefallenen Erzengel. Gewiss soll der Mensch etwas machen aus seiner Zeit und sie keineswegs vergeuden. Wahrscheinlich hätte es den Aufstieg Europas nicht gegeben ohne diese Haltung, dessen besonders markantes Ergebnis der (vormals?) fleißige Michel ist.
Aber zurück zum Verhältnis von Tätigkeit und Zeit: Hier wird man verwundert feststellen: Die Menschen haben immer mehr Zeit, und deshalb hätten sie eigentlich immer mehr Zeit für Muse und Muße. Die Lebenserwartung steigt in der westlichen Welt unvermindert an. Die verbindliche Arbeitszeit hat sich in einem Jahrhundert zugunsten der „Frei“-Zeit fast halbiert. Die für einen Produktionsvorgang notwendige Zeit hat sich aufgrund neuer Werkzeuge und Technologien immer mehr verkürzt. Die Informationsbeschaffung hat sich dramatisch beschleunigt. Wir haben pro Familie immer weniger Kinder, um die man sich kümmern muss. Reisen und Transporte dauern nur noch einen Bruchteil der früheren Reisezeit. Wir haben damit einen Gewinn an Zeit.
Wir haben uns einem rasenden Stillstand ausgeliefert und damit den Zustand einer Stagnation durch tatsächliche oder vermeintliche Innovation erreicht. (Joseph Weizenbaum spricht von „Stagnovation“.) Damit sind wir bei einem Zustand angekommen, in dem – wie beim tödlichen Herzflimmern – das hektische Oszillieren von einem totalen Stillstand nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Folge ist: Die Gegenwart schrumpft. Das Nächste, das Zukünftige ist schneller da, und wenn es da ist, dann ist es sofort schon Vergangenheit.
Es ist auch falsch, Zeit nur physikalisch als „Leistung ist gleich Arbeit je Zeiteinheit“ zu betrachten. Ebenso falsch ist es, Zeit nur ökonomisch nach dem Grundsatz „time is money“ zu betrachten. Vielmehr sollten wir Zeit gleichberechtigt philosophisch betrachten. Jeder Mensch verfügt dementsprechend nur (!) über ein gewisses Maß an Zeit. Seneca spricht von dem „tempus suum“ eines jeden Menschen. Diese je eigene Zeit – so Seneca – sei des Menschen wichtigstes Eigentum. Wird sie gestohlen, ist sie unwiederbringlich. Sie ist das Einzige, was man nicht verschenken oder anderen übertragen kann (außer indem man andere in Ruhe lässt oder sich anderen zuwendet). Nichts macht denn auch einen Menschen wütender, als wenn Wichtigtuer und Querulanten ihm Zeit rauben.
Niedere und hohe Langeweile
Zeit haben heißt Weile haben. Eine solche Weile kann kurz sein, als Weilchen ist sie etwas durchaus Nettes, und sie kann lang sein. Als lange Weile (Langeweile) kennen wir sie in zwei Ausprägungen: als niedere und als hohe Langeweile.
Die niedere Langeweile: Sie ist oft ätzend, macht aggressiv, vermittelt das Gefühl der Verlorenheit, vermittelt nicht selten ein Sinnvakuum. In der Folge kann sich eine schmerzliche Selbstaufmerksamkeit bis hin zur Hypochondrie einstellen. Es kann sich daraus ein zielloser Konsumismus ergeben. Folge: „Wir amüsieren uns zu Tode“, wie Neil Postman in seinem Buch gleichen Titels nachwies.
Es gibt daneben die „hohe“ Langeweile, die den Menschen erst zum Menschen macht. Voltaire wusste: Wenn sich Affen langweilen würden, wären sie Menschen. Hohe Langeweile kann eine kreative Kraft sein, weil das Neue und das Wesentliche damit eine Chance erhalten.
Nennen wir das Ausleben einer höheren Langeweile Muße. Solche Muße ist schöpferische Gestaltung freier Zeit. Solche „hohe“ lange Weile stand womöglich schon an der Wiege der Menschheit. Laut Soeren Kierkegaard schufen die Götter den Menschen, weil sie sich langweilten und weil sie sich belustigen wollten. Und Adam bekam aus seiner Rippe Eva geschaffen, weil er sich sonst gelangweilt hätte.
Zurück zur Faulheit: Ja, es gibt ein Recht auf Faulheit, ja gar eine Pflicht zur Faulheit. Natürlich ist bekannt, dass die Trägheit des Herzens eine der sieben Todsünden ist und dass laut Volksmund Müßiggang aller Laster Anfang ist. Dennoch sei eine Lanze gebrochen für die Faulheit. Sie ist oft ein letztes Ich-Fenster, aus dem wir – noch unbeeindruckt vom „chillen“ und „entertainment“ – in die Welt schauen können. Deshalb sollten die Menschen gelegentlich zur Notbremse greifen und ihr Da-Sein ent-schleunigen, damit es kein bloßes Bis-Sein, kein bloßes Schielen auf Fristen und Termine wird.
Die Menschen sollten sich Entschleunigungsinseln schaffen: nicht mit Rumhängen, Rumlungern – sondern mit Nachdenken, mit Meditieren, mit Lesen, mit Erzählen, Erzählen lassen und Zuhören. Damit streckt man die Zeit, schafft Raum für die Zeit. Und wer es denn als Nihilist oder Existentialist so will, dem sei gesagt: Erst auf dem Gipfel der Langeweile erfährt man den Sinn des Nichts.
Der Mensch ist jedenfalls nur dort ganz glücklich, wo er einfach nur Flaneur, Familienmitglied, Nachbar, Leser, Museumsbesucher, Schwimmbadbenutzer sein kann. Glück ist insofern nicht nur Glückssache. Solches Glück kann man „machen“ – machen mit Müßiggang, denn Müßiggang ist Trägheit mit Sinn.
Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt: Unsere größten Stunden, das sind oft nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten. Man nehme sich diese Stunden – immer und immer wieder. Denn der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt – und sei es nur mit seinen Gedanken und Wahrnehmungen.
Das ist kein Plädoyer, faul zu sein und sich zu langweilen. Nein, das ist ein Plädoyer für ein Recht auf lange Weile – allerdings n u r für den, der vorher fleißig war. Oder anders: Faulheit ist das Privileg der Fleißigen.