Tichys Einblick
Kurskorrektur überfällig

Zum Abstieg und Zerfall der deutschen Sozialdemokratie

Der Zustand der deutschen Sozialdemokratie ist jämmerlich, davon können auch die gerade noch so nicht verlorenen jüngsten Bundestagswahlen nicht ablenken. Nicht zuletzt ihre wirklichkeitsfremde Position in der Einwanderungspolitik ist dafür verantwortlich. Von Prof. Dr. Georg Menz

IMAGO / imagebroker/grassegger

Die Malaise der deutschen, wie auch der europäischen Sozialdemokratie, ist zwar mit Händen greifbar, doch scheint sie letztlich weit weniger Beachtung zu finden, als dies der Niedergang einer einst stolzen Gruppe von Volksparteien vermuten ließe.
Mit Beiträgen von einer Gruppe von Politikwissenschaftlern aus Frankreich, Schweden, Dänemark, Italien, Österreich, den Niederlanden, und Großbritannien zusammen gebe ich dieses Jahr einen Sammelband heraus, der sich genau dieser Malaise annimmt. Warum nur bekommen die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien kaum noch einen Fuß auf den Boden? In Mittel- und Osteuropa scheinen sie sich dauerhaft von der Bildfläche verabschiedet zu haben, in Frankreich ist die Linke gespalten, unentschlossen und lustlos, Britanniens Arbeiterpartei kann zwar von den Eskapaden des konservativen Premiers temporär profitieren, leidet aber immer noch unter den herben Verlusten in den einstigen Stammregionen der Partei im post-industriellen Norden Englands. Selbst in einigen der ur-sozialdemokratischen Staaten Europas, wie den skandinavischen, mussten die Sozialdemokraten zuletzt reichlich Federn lassen. In den Niederlanden steht es ebenfalls schlecht um die “Partei von der Arbeit”.

Wer nun meint, dass im Zuge des oft proklamierten Kollapses (oder zumindest: der Infragestellung!) des neoliberalen Paradigmas, den die schwere Wirtschaftskrise von 2008 ja zu beinhalten schien, die Stunde der Sozialdemokraten geschlagen hätte, liegt falsch. Umgekehrt wird aber auch kein Schuh draus: Die Mitte-Links-Parteien werden nicht deswegen abgestraft, weil sie sich in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht aureichend nach links positioniert hätten, beziehungsweise Anfang des Jahrtausends im Zuge des Dritten Weges am Sozialstaat herumgedoktert haben.

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Der Zustand der deutschen Sozialdemokratie ist jämmerlich, davon können auch die gerade noch so nicht verlorenen jüngsten Bundestagswahlen nicht ablenken: vom desolaten Bild der Ampel-Koalition und des sichtlich überforderten Olaf Scholz einmal abgesehen. In den Koalitionsverhandlungen ließen sich die Genossen denn auch einigermaßen über den Tisch ziehen und überließen den immer offener linksradikalen “Grünen” zentrale Ministerposten. Der Koalitionsvertrag trieft denn auch von grüner Ideologie: vergleichsweise schwierig hingegen gestaltet sich die Suche nach dezidiert sozialdemokrtiachen Elementen.

Statista-Daten von 2021 vermelden einen Rückgang von 315.327 SPD-Mitgliedern seit 2000 und damit nahezu eine Halbierung. Um 2002 konnte die Partei unter Schröder noch punkten und erreichte 38,5 Prozent der Wählerstimmen; letzten Herbst robbte sie mit 25,7 Prozent auf dem Zahnfleisch über die Zielgerade. Auch in den Ländern steht es nicht gut um die SPD und das nicht nur im Osten, sondern auch in historisch “roten” Regionen im alten Westen: etwa in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen läßt sich der Stimmenverlust der SPD klar konstatieren.

Woran liegt es? Warum dümpeln Europas Sozialdemokraten vor sich hin? In Deutschland dürfen wohl unbestritten die Grünen als die echten Sieger der Wahlen von 2021 gelten und treiben die SPD vor sich her.

In dem diesem Sommer in London bei Routledge erscheinenden Sammelband “The Resistible Corrosion of Europe’s Center-Left after 2008” stelle ich sechs Erklärungsstränge dar, anhand derer sich das Siechtum der deutschen Genossen erläutern ließe.

Erstens wäre da die Schrumpfung des klassischen Arbeitermilieus und der Niedergang der deutschen Gewerkschaften. Zwischen den frühen 70er Jahren und 2012 hat sich die Anzahl der abhängig Beschäftigen in der Industrie mehr als halbiert: nämlich von etwa 40 auf 19,8 Prozent aller Beschäftigten. Und weil die Gerwerkschaften sich schwer damit zu tun, im Dienstleistungsbereich neue Mitglieder zu rekrutieren, folgt daraus auch der Niedergang derselbigen: In Deutschland gab es derer 2010 noch 6,3 Millionen, während es noch 1991 immerhin fast doppelt so viele, nämlich 11,8 Millionen waren. Was aber auch auffällt: der enge Draht zwischen den Gewerkschaften und der einst als Anwaltschaft der kleinen Leute fungierenden SPD ist recht dünn geworden.

Während der Legislaturperiode von 1998 bis 2002 waren 86 Prozent aller SPD-Bundestagsabgeordneten ebenfalls Gewerkschaftsmitglieder: die Fürsprache für den sprichwörtlichen kleinen Mann war also durchaus ernsthaft zu reklamieren. Aber im Jahre 2017 sah es schon recht deutlich anders aus. Die SPD hatte nur noch 152 statt vormals 292 MdBs, von denen auch nur 104, also 68 Prozent bei den Gewerkschaften organisiert waren. Bei der SED-Nachfolgepartei sieht es da schon ganz anders aus! Auch bezeichnend: im Bundestag saßen zwischen 2017 und 2021 für die SPD Parlamentarier, die zwar zu 29 Prozent aus Beamten und zu 15,8 Prozent aus Angestellten bestand – dafür fand sich aber kein einziger als Arbeiter Klassierter darunter! Das einstige Stammklientel schrumpft also, aber die SPD ist auch weit weniger echte Arbeiterpartei und die vormals bestehende organische Verbindung zwischen Gewerkschaften und Parlamentarieren schwindet. “Kreissaal – Hörsaal – Plenarsaal” lästern böse Zungen. Die einstige Arbeiterpartei hat niemanden in Berlin sitzen, der auf einem Bauernhof, in der Produktion oder auf einer Baustelle malocht hat.

Zweitens: In Sachen Arbeitsmarkt-, Sozial und Wirtschaftspolitik – also klassischen Kernthemen der Linken – ist unklar, wohin der Kurs geht. Vom Geist der Hartz-Reformen hat man sich längst verabschiedet und flirtet stattdessen mit unförmigem Neo-Keynesianismus, ganz so, als sei die Staatsverschuldung nicht schon hoch genug. In Wachstumstechnologien sind die Chinesen und Amerikaner Lichtjahre im Vorraus: Wie genau eine wachstumsfördernde (und nicht: -hemmende!) Industrie- und Standortpolitik aussehen soll, wissen die Roten offenbar nicht ganz so genau. Wo sind eigentlich die deutschen Anwärter auf den Status eines Apples und Googles in einem Land, das Benz, Diesel und Planck hervorbrachte? Und: Wo kommt das neue Wachstum her?

Drittens erfolgt zunehmend die Verbürgerlichung der Partei, ihrer Eliten und auch der überalterten Mitgliedschaft. Das neue Prekariat im Dienstleistungssektor wird weder erreicht, noch scheint man sich um dessen Anliegen besonders zu kümmern, von ein paar rhetorischen Floskeln im Parteiprogramm einmal abgesehen. Wer genau soll denn dann die Sozialdemokraten wählen? Das meist mit Universitätsabschluss versehene urbane und junge Kosmopolitentum, die nach Eigeneinschätzung “Anywheres” (im Sinne des Briten David Goodhart), sind längst in Richtung Grüne abgewandert. Die noch verbliebene Arbeiter- und Angestelltenbasis schaut sich die AfD gerne mal genauer an, zumal sich letztere zumindest im Westen immer bürgerlicher geriert und längst nicht mehr mit liberaler Wirtschaftspolitik hantiert. Wähler wandern also nach rechts und nach links, die Partei schmilzt zusammen.

Viertens stellt sich die dringliche Frage nach der Zukunft des Wohlfahrtsstaates, immerhin ja einstmals das Kernanliegen der Partei, die angetreten war, den Kapitalismus zumindest zu bändigen, wenn schon nicht zu beseitigen. Das demographische Dilemma ist schnell benannt: Im Dezember 2019 war die zahlenmäßig größte Alterskohorte in Deutschland die Gruppe der 40- bis 59-jährigen: 23,6 Millionen laut Statista. Unter 11 Millionen Kinder von 0-14 Jahren gibt es, dafür aber gleich 18,09 Millionen Renter über 65 und die Zahl derer, die kurz vor der Verrentung stehen (60-64) beträgt 5.65 Millionen. Der Generationenvertrag, auf dem der Wohlfahrtssaat aufbaut, ist also kaum noch aufrechtzuerhalten: immer höher werdende Gesundheitskosten kommen noch oben drauf. Statt Abhilfe zu schaffen und mit Familienpolitik zu punkten, haben die Sozialdemokraten Merkels Politik der kulturfremden Masseneinwanderung in die Sozialsysteme mitgetragen und forciert und tun dies auch nach dem überfälligen Abdanken Merkels. Wie kann der Wohlfahrtsstaat reformiert werden, ohne das Kind mit dem Badewasser auszuschütten? Die nachfrageorientierten Reformen der 2000er Jahre versuchten, mit sanftem Zwang das exzessive Lehnen auf die eigentlich als nur vorrübergehende “Stütze” vorgesehenen Sozialstaat zu unterbinden und der aus dem Ruder gelaufenen Frühverrentnung Einhalt zu gebieten. Immerhin: ein paar Ideen zum Beispiel zu einem Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte, Unterstützung bei der Ausbildungsfinanzierung und einer Absage an Rentenkürzungen finden sich im Parteiprogramm. Doch nichts davon ist innovativ, alles ist sehr etatistisch: Neu ist fast nichts und was neu ist, nicht gut.

Fünftens muss sich die deutsche Linke die Frage gefallen lassen, warum denn nun genau millionenfache und weiterhin weitgehend unkontrollierte Armutseinwanderung, die zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat, erstrebenswert sein soll. Bislang weigern sich die Sozialdemokraten, Kritik am Projekt der Masseneinwanderung überhaupt zuzulassen und nicht einfach niederzubrüllen und als Ausgeburt braunen Ungeistes zu diffamieren. Da waren wir in den 70er Jahren schon weiter und auch die mutigen Schritte der dänischen Regierung, weiteren Mißbrauch des Asylstatus als de facto Einwanderungskanal zu unterbinden und auf Integration zu pochen, statt aus falsch verstandener Toleranz heraus wirre und verfehlte Akzeptanz von Parallelgeselschaften zu betreiben, wären für die deutschen Sozialdemokraten brauchbare Wege.

Solange die wegen ihrer Verstrickungen im linksextremen Milieu umstrittene SPD-Innenministerin Faeser aber losgelöst von jeglicher Alltagsrealität laut noch immer nach höheren Einwandererzahlen geifert und sich weigert, anzuerkennen, dass weder in Deutschland noch europaweit Interesse an einer solchen uferlosen Einwanderungspolitik besteht, solange zeigt sich, wie weit von der Lebenswelt der deutschen Arbeiterschicht – nicht nur in Offenbach und Marxloh! – sich die deutsche Linke entfernt hat. Und wer immer noch die weltfremden Multikulti-Fantasien der 70er Jahre im gehobenen Speckgürtel – also möglichst weit entfernt von durch ausländische Kulturen stark geprägten Großstadtvierteln! – träumen möchte, ist ohnehin schon bei den Grünen gelandet. Bei diesem Klientel wird die SPD auch durch noch so extreme Anbiederung an grüne Maximalforderungen ohnehin nicht punkten können.

Wenn die SPD die mit der Einwanderung verbundenen Probleme immerhin anerkennen könnte, wären wir schon einen Schritt weiter. Freilich: Eine Ausländerpolitik für das 21. Jahrhundert wäre eine, die ganz auf Neuzuwanderung verzichtet, auf Integrationspflicht als Bringschuld besteht, Grenzen sichert, Abschiebungen im gebotenen Maße durchsetzt und sich endgültig vom Paradigma des sogenannten “Einwanderungslandes” verabschiedet. Das sind indes Positionen, die auf europäischer Ebene zwar rechts der Mitte, links aber bislang nur in Dänemark vertreten werden. Derweilen läuft das Arbeiterklientel, das sich mit den Auswirkungen von Masseneinwanderung aus radikal anders gearteten Kulturkreisen Tag für Tag auseinandersetzen muß, in Scharen zur AfD über: steigende Mieten, verslumte öffentliche Einrichtungen, dezidierte Unsicherheit bei der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs, deutschenfeindliches Mobbing auf dem Schulhof und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, oder aber: exzessive Belastung des Sozialstaates. Von der Ankuft in der harten Realität ist die deutsche Linke meilenweit entfernt – und wundert sich ernsthaft, warum ihr die Mitglieder ausgehen und die Wähler schreiend davonlaufen. Hier wäre eine Kurskorrektur überfällig und zwar sowohl um sich von den Grünen und deren an der Realität gescheiterten Multikulturalismus-Träumereien abzusetzen, als auch um eine an der Lebensrealität der niedrigeren sozialen Schichten ausgerichtete Migrationspolitik zu formulieren. Das ist möglich, erfordert aber Mut.

Sechstens stellt sich die Frage nach der europäischen Integration. Der alte Delorsche Traum vom Sozialstaat auf Europa-Ebene ist längst ausgeträumt. Nach dem Brexit droht, daß sich die EU in eine gigantische Umverteilungsmaschinerie für eigentlich recht wohlhabende, aber unsachgemäß verwaltete mediterrane Volkswirtschaften wandelt. Ein Einstieg in die Umverteilungsuniuon ist mit den Fördermaßnahmen für Südeuropa bereits geschehen, vorgeblich mit der Corona-Krise als Junktim dem Wahlvolk schmackhaft gemacht. Dem Arbeitslosen in Cottbus oder Berlin-Wedding ist wohl nur schwerlich begreiflich zu machen, warum nun ausgerechnet er zur Sanierung (oder: Weiterfinanzierung?) des italienischen Staatshaushaltes herangezogen werden soll. Wer in Deutschland die EU kritisieren will, braucht wahlweise ein schnelles Pferd oder lebt – wie der Autor – in den Vereinigten Staaten. Allenfalls Neomarxisten wie Wagenknecht wagen Kritik von Links an Brüssel, von Rechts ist seit Bernd Lucke kaum noch etwas zu vernehmen. Was genau am überbordend etatistischen Umverteilungsmaschinismus, der zunehmen mit französischen Vorgaben agieren wird, denn nun “links” sein soll, erschließt sich nicht. Umgekehrt gilt auch: wie genau eine linke EU aussehen soll, ist den Sozialdemokraten offenbar selber nicht ganz klar und da, wo es artikuliert wird, ist es von grüner Ideologie nicht mehr zu unterscheiden.

Schließlich: eine Partei, deren Vorsitzende sich offen mit den linksextremen schwarzvermummten Schlägertruppen solidarisiert, die vor vier Jahren Hamburg verwüstet haben, deren Generalsekretär von Verstaatlichungen deutscher Kernunternehmen nach DDR-Manier geifert, und deren ehemaliger Kanzlerkandidat illegale Einwanderer als wertvoller als Gold umdeklariert, kann sich dem Vorwurf nicht entziehen, vom Boden der Realität abgehoben zu haben und sich auch dem Geiste des Grundgesetzes zu entziehen. Weniger Schaum vor dem Mund, weniger Özuguz, Stegner und Ueckermann täten der Partei sehr gut.

“When you are in a hole, stop digging”, rät der amerikanische Volksmund. Die deutschen Sozialdemokraten haben mit kläglichen Prozentzahlen die Bundestagswahlen gerade so nicht verloren, von der Einsicht, daß man sich am Boden eines Loches befindet, kann als noch keine Rede sein. Der Niedergang der deutschen Sozialdemokratie wird aber weitergehen, die Wählerwanderung ebenfalls. Ausweg böte innovative Wirtschafts- und Sozialpolitik nebst zukunftsorientierter Kurskorrektur in Sachen Einwanderung. Von beidem ist man im Willy-Brandt-Haus Lichtjahre entfernt.


Georg Menz ist Professor für Internationale Politik an der Old Dominion University in Norfolk, Virginia, USA. Der Band erscheint im Sommer 2022 bei Routledge in London: “The Resistible Corrosion of Europe’s Center-Left after 2008”.

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