Die selbsternannten Experten rätselten: Was nur konnte Putin veranlasst haben, mit rund 30 seiner Marschflugkörper den unbedeutenden Stützpunkt Jaworiw nahe der polnischen Grenze unter Feuer genommen zu haben? Schließlich, so Experten, habe Putin damit einen nicht unbedeutenden Teil seiner entsprechenden Waffen unwiederbringlich verfeuert. Zudem schien der strategische Wert des Einsatzes eher gering: Moskau meldete, bis zu 180 „ausländische Söldner“ getötet und Militärgerät zerstört zu haben; Kiew räumte den Tod von 35 Menschen und die Verletzung von weiteren 134 ein. War das die Sache wert?
Westliche Gedankenspiele
Westliche Experten ergingen sich in Gedankenspielen. Das anvisierte „Internationale Zentrum für Friedenssicherung und Sicherheit“ in Jaworiw war vor dem Krieg ein Ort, an dem Nato-Ausbilder für die ukrainische Armee tätig waren. Wollte Putin also Nato-Offiziere treffen, so diese sich nach wie vor dort aufhielten? Oder war der Stützpunkt ein bedeutender Umschlagplatz für Waffenlieferungen aus den Nato-Staaten? Wollte Putin so den Nachschub für die Verteidiger des zweitgrößten Flächenlandes Europas unterbinden? Sollte der Angriff vielleicht das Signal sein, dass Russland auch vor dem Einsatz gegen die Nato nicht zurückschrecke, sollte diese ihre Unterstützung für die bedrängte Ukraine fortsetzen? Vieles schien denkbar – und vieles machte wenig Sinn. Denn die Nato-Ausbilder waren längst abgezogen, Jaworiw zu keinem Zeitpunkt ein Nato-Stützpunkt, und der Nachschub läuft ohnehin auf ständig wechselnden Routen, um eben der russischen Armee einen dort ohne Zweifel erwünschten Vernichtungsschlag zu entmöglichen.
Trotzdem aber ein solch massiver Angriff, bei dem Putin 30 Hochleistungswaffen opferte. Laut ukrainischen Angaben sollen die Marschflugkörper luftgestützt über dem Schwarzen Meer gestartet worden sein und von dort zielgenau das über 700 Kilometer Luftlinie entfernte Jaworiw angesteuert haben. Zwei der fliegenden Bomben seien abgeschossen worden, meldet Kiew. Treffen diese Informationen zu, so könnte es sich um konventionelle Marschflugkörper der Typen Kh-101, Kh-555 und/oder Kh-55 gehandelt haben, die über eine Reichweite von 2.000 Kilometern verfügen. Doch selbst, wenn es sich um diese älteren Modelle gehandelt haben sollte (die Untersuchungen laufen noch), standen Beobachter vor einem Rätsel: 30 teure Präzisionswaffen, um vielleicht gerade einmal 180 Kriegsfreiwillige und ein wenig militärisches Material zu vernichten?
Putins angebliches Signal an die Nato
Schnell griff deshalb die scheinbar einzig denkbare Erklärung um sich: Putin habe damit ein Signal an „den Westen“ schicken wollen: Seht her, wir verfügen über hochpräzise Lenkwaffen, die wir über weite Entfernung abfeuern können, um euch überall zielgenau zu treffen! Eingedenk des Auftritts Putins am 1. März 2018, bei dem er in Russland produzierte, atomgetriebene und atomwaffenfähige Marschflugkörper vom Typ 9M729 (Nato-Code SSC-8) vorstellte, die angeblich weltumspannend jegliche Abwehr selbsttätig umfliegen und unerkannt ihr Ziel erreichen, eine durchaus ernstzunehmende Drohung.
Allerdings: Ob es die angeblich 64 SSC-8 tatsächlich gibt und ob diese einsatzfähig sind, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen. Das, was Putin im März 2018 präsentiert hatte, war ein nichtssagender Film mit dem bodengestützten Start eines nicht erkennbaren Flugkörpers, gefolgt von einer hübschen Flugsimulation, wie sie heute jeder halbwegs begabte Gamer problemlos auf dem Home-PC herstellen kann. So neigen zunehmend mehr Experten der Nato auch angesichts des offensichtlich unzureichenden Vormarsches der russischen Armee in der Ukraine sowie des bestätigten Hilfsgesuchs an die Volksrepublik China dazu, in Anlehnung an die Zarenzeit von „Putin’schen Waffen“ zu sprechen: Schein statt Sein wie bereits zu Zeiten des Kalten Krieges. Die überdimensionierte Attacke auf das frühere Ausbildungszentrum, welches nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegt, schien in diese Denkwelt zu passen: Drohung oder Bluff – oder ein Bluff als Drohung.
Gezielter Einsatz gegen eine Eliteeinheit
Nun allerdings erreichten TE Informationen, wonach Jaworiw für Putin tatsächlich ein strategisches Ziel von höchster Bedeutung gewesen ist – Informationen, die zudem perfekt in die Erfolgsmeldung des russischen Militärsprechers Igor Konaschenkow von den angeblich ausgeschalteten „ausländischen Söldnern“ passen.
Demnach ging der Kreml davon aus, dass in Jaworiw die sogenannte „Georgische Legion“ stationiert war. Bei dieser Einheit handelt es sich um eine Elitetruppe, die ihren Namen auf Kämpfer aus Georgien zurückführt, welche in den beiden Weltkriegen an der Seite der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion um ihre staatliche Unabhängigkeit kämpften. Heute soll diese mehrere hundert Mann starke Einheit zu rund der Hälfte aus christlichen Kaukasiern bestehen, deren Ruf als gnadenlose Kämpfer dem der islamischen Tschetschenen des Kadirow in nichts nachsteht. Die andere Hälfte wird demnach überwiegend aus ehemaligen US-Marines und Mitgliedern der britischen Special Forces gestellt, die nach ihrem Ausscheiden aus dem regulären Dienst bei der Georgischen Legion angeheuert haben – Männer im Alter zwischen 24 und 28 Jahren, die das Kriegshandwerk perfekt beherrschen.
Tatsächlich ist die Georgische Legion in der Ukraine an der Seite der Ukrainer aktiv – nicht zuletzt dadurch legitimiert, dass sie über eine entsprechende Anordnung des Präsidenten zur Aufstellung Internationaler Brigaden als reguläre Kampfeinheit geführt wird. In gewisser Weise schließt sich damit auch der Kreis zu den offensichtlichen Fehlinformationen, die Putin dazu bewogen haben, der von ihm offenbar als besonders gefährlich eingestuften Legion mit einem Powerschlag die Angriffsfähigkeit zu nehmen. Denn Jaworiw diente tatsächlich als Anwerbepunkt für ausländische Kämpfer.
So kursiert ein Informationsblatt, welches TE vorliegt, wonach Bewerber für die Internationale Legion über den Grenzübergang Korczowa-Karkowiec in die Ukraine kommen sollen und sich bei einer nahegelegenen Tankstelle über das weitere Vorgehen informieren können. Von dort sollen Freiwillige, die laut Info-Blatt ein polizeiliches Führungszeugnis mitbringen sollten, über amtliche Personalpapiere verfügen müssen und im optimalen Fall bereits Uniform und Waffe dabei haben, auch nach Jaworiw weitergeleitet worden sein. Jedoch handelt es sich dabei nicht um die hochqualifizierten Männer der Georgischen Legion, sondern um Personen, die zwar zumeist militärische Erfahrung vorweisen, jedoch auf den unmittelbaren Kampfeinsatz erst vorbereitet werden müssen.
Die Georgische Legion verfehlt
Möglich also, dass die russischen Marschflugkörper ein paar dieser Kampfwilligen getötet oder verwundet haben – doch das eigentliche Ziel der als überaus effizient eingestuften Georgischen Legion wurde verfehlt. Was wiederum einen Offizier dieser Einheit zu der Feststellung verleitet: „Ich kann nicht garantieren, dass alle unsere Jungs diesen Krieg überleben werden – aber ich kann eines sagen: Die Russen werden ihn nicht gewinnen!“
Das mag Zweckoptimismus sein, doch er belegt, dass die Legion äußerst motiviert in ihren Kampf gegen russische Soldaten geht, die offenbar als kaum ausgebildete Wehrpflichtige zum vorgeblich „freiwilligen Einsatz in der militärischen Spezialoperation motiviert“ wurden und nun als russisches Kanonenfutter ihre Köpfe für die Machtphantasien einiger alter Männer im Kreml hinhalten dürfen. Männer, deren Furcht vor den Elitekämpfern es offenbar gerechtfertigt erscheinen ließ, 30 Hochleistungswaffen unwiederbringlich in einem einzigen, in der Sache fehlgeschlagenen Angriff zu verschwenden.