Tichys Einblick
AfD darf als Verdachtsfall beobachtet werden

Was das „Deutsche Volk“ im Grundgesetz zu suchen hat

In der vom Verwaltungsgericht Köln abgesegneten Begründung für die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz geht es um den "ethnisch verstandenen Volksbegriff", der dem Grundgesetz zuwiderlaufe. Allerdings ist in diesem von "deutscher Volkszugehörigkeit" die Rede.

IMAGO / McPHOTO

Nun darf also das Bundesamt für Verfassungsschutz die Alternative für Deutschland als so genannten Verdachtsfall einstufen. Dazu hat in einem Urteil gestern das Verwaltungsgericht Köln seinen Segen gegeben, indem es eine Klage der AfD gegen die Bundesrepublik Deutschland abwies. „Es gebe ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei“, heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts über dessen Begründung.

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Dieses Urteil hat unmittelbare Auswirkungen auf die AfD und damit die deutsche Parteienlandschaft. Es bedeutet letztlich einen Schritt hin zur Aussicht auf ein Verbotsverfahren, was die AfD in ihrer Argumentation auch selbst vorbrachte: Eine solche Einstufung komme in ihrer Wirkung einem Verbot gleich. Der Status als „Schwefelpartei“, wie sie der AfD-nahe Publizist Michael Klonovsky ironisch nennt, erhält nun sozusagen eine amtlich-juristische Bestätigung.

Aber die Bedeutung des Urteils geht über die AfD hinaus. Im Zentrum der Argumentation steht die Interpretation des Begriffs des Volkes. Im Wesentlichen geht es um den Vorwurf des Bundesamtes, die AfD vertrete einen „ethnisch verstandenen Volksbegriff“. Die entscheidende Passage in der Pressemitteilung des Gerichts – das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor – lautet: 

„Sowohl im Flügel als auch in der JA [der Jugendorganisation Junge Alternative] sei ein ethnisch verstandener Volksbegriff ein zentrales Politikziel. Danach müsse das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten und sollten „Fremde“ möglichst ausgeschlossen werden. Dies weiche vom Volksbegriff des Grundgesetzes ab. Es gebe Verlautbarungen, in denen „Umvolkungs-“ und „Volkstod-“Vorwürfe erhoben würden. Ferner sei eine ausländerfeindliche Agitation zu erkennen („Messer-Migranten“). Drittens rechtfertige auch eine Betrachtung der Partei im Übrigen ihre Einstufung als Verdachtsfall. Diese befinde sich in einem Richtungsstreit, bei dem sich die verfassungsfeindlichen Bestrebungen durchsetzen könnten. Nicht erforderlich sei für eine Einstufung als Verdachtsfall, dass eine Partei von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht werde.“

In der Argumentation des Bundesamtes und im Urteil, zumindest soweit die Pressemitteilung darauf schließen lässt, steckt zumindest implizit die Behauptung, der „Volksbegriff des Grundgesetzes“ sei grundsätzlich nicht ethnisch zu verstehen. Dies zu unterstellen, ist durchaus nicht selbstverständlich, sondern fragwürdig. Wen meinten die Mütter und Väter des Grundgesetzes, als sie 1949 in die Präambel schrieben, „das Deutsche Volk“ habe sich dieses Grundgesetz gegeben? Das „Deutsche Volk“ kommt an vielen Stellen der Verfassung vor, nicht die Bevölkerung und auch nicht das „Staatsvolk“ oder „alle, die in Deutschland leben“, wie Angela Merkel einmal definierte, steht da, sondern „das Deutsche Volk“. Und an entscheidender Stelle in Artikel 116 auch das Wort „Volkszugehörigkeit“, das kaum anders als ethnisch zu verstehen ist. 

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Die Ungereimtheiten dieser nun gerichtlich fixierten und politisch wirkmächtigen Interpretation, durch die die Verwendung eines „ethnisch verstandenen Volksbegriffs“ (und in der öffentlichen Wahrnehmung vermutlich der Begriff „Volk“ generell) letztlich zum Indiz einer zumindest potentiell verfassungsfeindlichen Gesinnung erklärt wird, liegen für jeden historisch Informierten auf der Hand. Allein schon deswegen, weil eben zu jenen Deutschen, für die die Schöpfer des Grundgesetzes 1949 handelten, auch viele Millionen Deutsche außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes in der DDR gehörten, außerdem mehrere Millionen nicht nur aus den ehemaligen Ostgebieten, sondern auch aus den Balkan-Ländern und Osteuropa ins Bundesgebiet vertriebene Menschen deutscher Muttersprache, die vor 1945 „Volksdeutsche“ genannt wurden. Zu ihnen zählen zum Beispiel die aus Ungarn vertriebenen Vorfahren des früheren Grünen-Politikers Joschka (ungarische Koseform von Josef) Fischer und die „Russland-Deutschen“, die zuvor nicht zum Staatsvolk der Bundesrepublik oder des Deutschen Reiches gehörten. Aber sie gehörten noch für die Bundesregierung Helmut Kohls ganz selbstverständlich zum „Deutschen Volk“ und wurden eben deswegen mit ihrer Umsiedlung in die Bundesrepublik sofort deutsche Bürger – im Gegensatz zu anderen Zuwanderern. Aufgrund der deutschen Geschichte, die eben auch nach 1871 nicht nur die Geschichte eines einzigen Staates, sondern einer in verschiedenen Ländern lebenden „Kulturnation“ war, ist es nicht möglich, die Begriffe „Deutsches Volk“ und „Deutscher“ mit Staatsbürger des Deutschen Reiches oder der Bundesrepublik pauschal gleichzusetzen. 

Auch das Grundgesetz verwendet deswegen geradezu notgedrungen einen ethnisch verstandenen Volksbegriff, indem in Artikel 116 als „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes“ neben Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch definiert ist, „wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit [sic!] oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“. Und im zweiten Absatz heißt es: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.“ 

In diesem Art. 116 zeigt sich also die ganze Ambivalenz des Volksbegriffes: Das Staatsvolk als Gemeinschaft der Staatsangehörigen ist nicht unbedingt deckungsgleich mit dem ethnisch verstandenen Volk und soll es, wie der zweite Absatz des Artikels unmissverständlich klar macht, auch nicht sein. Aber eine völlige Auflösung eines ethnischen Bezuges ist ebenfalls nicht möglich, sofern man nicht jegliche historische Gewordenheit dieses Staates und seiner Bürger leugnen will. 

Es ist eine alte Diskussion: Was ist ein Volk? Was ist eine Nation? Was ist eine Ethnie? Diese Fragen beschäftigten vor allem im 19. Jahrhundert ungezählte Publizisten, Gelehrte und Politiker. Die Debatte war und bleibt uferlos. Nicht alle, aber manche Antworten führten in den nationalsozialistischen Rassenwahn. 

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Eine der überzeugendsten und bleibenden Antworten gab der Franzose Ernest Renan. In seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation?“ sagte er 1882: „Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und lässt sich dennoch in der Gegenwart durch ein greifbares Faktum zusammenfassen: die Zufriedenheit und den klar ausgedrückten Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist (man verzeihe mir diese Metapher) ein tägliches Plebiszit, wie die Existenz des Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist.“

Diese Definition, die für Frankreich prägend war, hat sich womöglich am ehesten historisch bewährt. In ihr fehlt die radikale Forderung nach einer reinen Abstammungsgemeinschaft, aber sie „setzt eine Vergangenheit voraus“. Die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine, nämlich der entschiedene Widerstand der allermeisten Einwohner dieses Landes gegen Putins Anspruch, sie in ein übernationales Moskauer Imperium einzugliedern, könnte man mit Renan als gelebtes, im Kampf bezeugtes Plebiszit dafür nehmen, dass die Ukrainer im Gegensatz zu den Behauptungen Putins eine Nation sind. 

Eine der deutlichsten Lehren des an „Völker“-Morden so schrecklich reichen 20. Jahrhunderts ist es wohl, dass der politische Anspruch, eindeutige, radikale, kategorische Antworten auf diese Fragen vorzugeben, nicht nur in letzter Konsequenz unmöglich ist, sondern auch endloses Leid erzeugt. Die in der Argumentation des Bundesamtes und dem Urteil zumindest durchklingende Ansicht, dass es Nationen/Ethnien/Völker gar nicht gibt oder zumindest künftig nicht mehr geben soll, ist letztlich auch eine radikale Antwort, die unbedingt eine abstrakte Klarheit schaffen will, statt eine Wirklichkeit zu akzeptieren, die meist vielschichtig ist. Zu Frieden und Freiheit haben solche Wünsche nach einer Tabula Rasa jedenfalls bislang nie geführt. 

Über dem Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts wird übrigens wie über jedem anderen in Deutschland stehen: „Im Namen des Volkes“.

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