Nun darf also das Bundesamt für Verfassungsschutz die Alternative für Deutschland als so genannten Verdachtsfall einstufen. Dazu hat in einem Urteil gestern das Verwaltungsgericht Köln seinen Segen gegeben, indem es eine Klage der AfD gegen die Bundesrepublik Deutschland abwies. „Es gebe ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei“, heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts über dessen Begründung.
Aber die Bedeutung des Urteils geht über die AfD hinaus. Im Zentrum der Argumentation steht die Interpretation des Begriffs des Volkes. Im Wesentlichen geht es um den Vorwurf des Bundesamtes, die AfD vertrete einen „ethnisch verstandenen Volksbegriff“. Die entscheidende Passage in der Pressemitteilung des Gerichts – das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor – lautet:
„Sowohl im Flügel als auch in der JA [der Jugendorganisation Junge Alternative] sei ein ethnisch verstandener Volksbegriff ein zentrales Politikziel. Danach müsse das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten und sollten „Fremde“ möglichst ausgeschlossen werden. Dies weiche vom Volksbegriff des Grundgesetzes ab. Es gebe Verlautbarungen, in denen „Umvolkungs-“ und „Volkstod-“Vorwürfe erhoben würden. Ferner sei eine ausländerfeindliche Agitation zu erkennen („Messer-Migranten“). Drittens rechtfertige auch eine Betrachtung der Partei im Übrigen ihre Einstufung als Verdachtsfall. Diese befinde sich in einem Richtungsstreit, bei dem sich die verfassungsfeindlichen Bestrebungen durchsetzen könnten. Nicht erforderlich sei für eine Einstufung als Verdachtsfall, dass eine Partei von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht werde.“
In der Argumentation des Bundesamtes und im Urteil, zumindest soweit die Pressemitteilung darauf schließen lässt, steckt zumindest implizit die Behauptung, der „Volksbegriff des Grundgesetzes“ sei grundsätzlich nicht ethnisch zu verstehen. Dies zu unterstellen, ist durchaus nicht selbstverständlich, sondern fragwürdig. Wen meinten die Mütter und Väter des Grundgesetzes, als sie 1949 in die Präambel schrieben, „das Deutsche Volk“ habe sich dieses Grundgesetz gegeben? Das „Deutsche Volk“ kommt an vielen Stellen der Verfassung vor, nicht die Bevölkerung und auch nicht das „Staatsvolk“ oder „alle, die in Deutschland leben“, wie Angela Merkel einmal definierte, steht da, sondern „das Deutsche Volk“. Und an entscheidender Stelle in Artikel 116 auch das Wort „Volkszugehörigkeit“, das kaum anders als ethnisch zu verstehen ist.
Auch das Grundgesetz verwendet deswegen geradezu notgedrungen einen ethnisch verstandenen Volksbegriff, indem in Artikel 116 als „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes“ neben Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch definiert ist, „wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit [sic!] oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“. Und im zweiten Absatz heißt es: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.“
In diesem Art. 116 zeigt sich also die ganze Ambivalenz des Volksbegriffes: Das Staatsvolk als Gemeinschaft der Staatsangehörigen ist nicht unbedingt deckungsgleich mit dem ethnisch verstandenen Volk und soll es, wie der zweite Absatz des Artikels unmissverständlich klar macht, auch nicht sein. Aber eine völlige Auflösung eines ethnischen Bezuges ist ebenfalls nicht möglich, sofern man nicht jegliche historische Gewordenheit dieses Staates und seiner Bürger leugnen will.
Es ist eine alte Diskussion: Was ist ein Volk? Was ist eine Nation? Was ist eine Ethnie? Diese Fragen beschäftigten vor allem im 19. Jahrhundert ungezählte Publizisten, Gelehrte und Politiker. Die Debatte war und bleibt uferlos. Nicht alle, aber manche Antworten führten in den nationalsozialistischen Rassenwahn.
Diese Definition, die für Frankreich prägend war, hat sich womöglich am ehesten historisch bewährt. In ihr fehlt die radikale Forderung nach einer reinen Abstammungsgemeinschaft, aber sie „setzt eine Vergangenheit voraus“. Die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine, nämlich der entschiedene Widerstand der allermeisten Einwohner dieses Landes gegen Putins Anspruch, sie in ein übernationales Moskauer Imperium einzugliedern, könnte man mit Renan als gelebtes, im Kampf bezeugtes Plebiszit dafür nehmen, dass die Ukrainer im Gegensatz zu den Behauptungen Putins eine Nation sind.
Eine der deutlichsten Lehren des an „Völker“-Morden so schrecklich reichen 20. Jahrhunderts ist es wohl, dass der politische Anspruch, eindeutige, radikale, kategorische Antworten auf diese Fragen vorzugeben, nicht nur in letzter Konsequenz unmöglich ist, sondern auch endloses Leid erzeugt. Die in der Argumentation des Bundesamtes und dem Urteil zumindest durchklingende Ansicht, dass es Nationen/Ethnien/Völker gar nicht gibt oder zumindest künftig nicht mehr geben soll, ist letztlich auch eine radikale Antwort, die unbedingt eine abstrakte Klarheit schaffen will, statt eine Wirklichkeit zu akzeptieren, die meist vielschichtig ist. Zu Frieden und Freiheit haben solche Wünsche nach einer Tabula Rasa jedenfalls bislang nie geführt.
Über dem Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts wird übrigens wie über jedem anderen in Deutschland stehen: „Im Namen des Volkes“.