Berichten deutsche Medien über den Ukraine-Krieg, so fast durchweg in einem Ton, der um emotionslose Sachlichkeit bemüht ist. Das gilt selbst für die meisten Kommentare. Im Unterschied dazu die polnischen. Der Krieg beherrscht nicht nur den polnischen Medienalltag seit dem 24. Februar. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist ein Journalismus, der fast durchweg emotionsgeladen ist. Und das gilt selbst für linksliberale Blätter wie die traditionsreiche Polityka, in der Chefredakteur Jerzy Baczyński seinen Kommentar vom 2. März mit der Schlagzeile „Ruhm der Ukraine“ überschreibt, um dann emotional fortzufahren mit dem Satz: „Geboren wird die politische ukrainische Nation in Blut und Schmerz. Eine Nation, die sich ihrer nichtrussischen Identität und des Preises ihrer Eigenstaatlichkeit bewusst ist.“
Hinter solchen Tönen wollen auch liberale oder liberalkonservative Zeitungen nicht zurückstehen. Zeitungen, die, wie die angesehene Rzeczpospolita, für gewöhnlich eher kühl argumentieren. Dezidiert konservative Nachrichtenmagazine wie wpolityce oder wSieci berichten und kommentieren fast ohnehin so, als wäre Polen schon Kriegspartei an der Seite der kämpfenden Ukraine.
Die Schlagzeilen in den Medien lassen derzeit tief in die psychische Verfassung der polnischen Journalisten und ihrer Leser blicken. Es ist eine Mischung aus verschiedenen Gefühlen. Ganz oben auf der Liste steht das Gefühl der Bedrohung durch Russland, das in Polen bekanntermaßen Tradition hat. Dem folgen Gefühle einer umfänglichen Solidarität mit dem Nachbarn, die sich dieser Tage an der überwältigenden Bereitschaft zeigt, Flüchtlinge aus der Ukraine ohne Zögern aufzunehmen oder die Ukraine auch militärisch nach Kräften und Möglichkeiten zu unterstützen.
Gefühle von Wut auf Putin und seine „Söldner“, die mit einer atemberaubenden Rücksichtslosigkeit zivile Ziele wie Wohngebiete und lebensnotwendige Einrichtungen der sogenannten kritischen Infrastruktur beschießen und bombardieren oder sich in den besetzten Gebieten der Ukraine zunehmend an der Zivilbevölkerung vergreifen. Daneben drückt sich unverhohlene Schadenfreude über die Verluste und die militärische Unfähigkeit der russischen Armee durch die Zeilen der Berichterstattung. So ist etwa der Abschuss eines russischen Kampfhubschraubers durch eine polnische Luftabwehrrakete des Typs „Piorun“ (Blitz) manchen Medien eine eigene Nachricht wert. Seit Tagen sind auch die russischen Nachschubprobleme, der zeitweise Mangel an Munition, Kraftstoff oder Truppenverpflegung ein dankbares Thema.
Besonders emotional sind die Töne dort, wo der Kampf der ukrainischen Nation um Freiheit und Unabhängigkeit thematisiert wird. Denn dieses Thema steht im Zentrum der eigenen Geschichte. Es ist das Kernthema des polnischen Selbstverständnisses, es ist das Leitmotiv der politischen Kultur der polnischen Gesellschaft überhaupt. In diesem Zusammenhang lebt die legendäre Parole des „Für unsere und Eure Freiheit“ wieder auf. Mit dieser Parole auf ihren Fahnen kämpften die Polen im Novemberaufstand 1831 gegen das zaristische Russland. Sie brachten damit zum Ausdruck, dass sie nicht nur für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit kämpften, sondern sich auch als Kämpfer für die Freiheit des unterdrückten russischen Volkes sahen.
Diese Leitidee überlebte die Niederlage der Aufständischen und wurde zu einem im kollektiven Bewusstsein fest verankerten nationalen Motto. Die Idee des „Für unsere und Eure Freiheit“ aktualisiert sich in diesen Tagen in einer neuen Bedeutungsvariante. Dieses Mal sind es die Ukrainer, die nicht nur für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, sondern auch für die Freiheit Polens, ja ganz Europas. Der ehemalige Kommandeur des polnischen Kommandos Spezialkräfte (GROM), General Roman Polko, formulierte dieser Tage die aktuelle Version dieses Mottos: „Eine unabhängige souveräne Ukraine ist der Garant unserer Sicherheit. Wenn die Ukraine zur Beute Putins wird, dann werden wir an unserer Grenze zu Weißrussland das Zehnfache dessen erleben (was wir gerade erlebt haben).“
So hat Selenskyj einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion davon gesprochen, dass der Krieg Russlands nicht nur „ein Angriff auf die Ukraine ist, sondern der Beginn eines Krieges gegen Europa, gegen die Einheit Europas, gegen die elementaren Menschenrechte in Europa, gegen die friedliche Koexistenz auf dem Kontinent“. Damit traf er exakt die polnische Gefühlslage, und zwar weitgehend unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Orientierung der Polen. Die europäische Dimension scheint auch auf, wenn polnische Medien mit Berufung auf den Figaro ausführlich darüber berichten, dass Selenskyj die Europäer dazu aufgerufen hat, sich dem Kampf der Ukraine gegen Russland anzuschließen.
In diese moderne Version internationaler Brigaden wollten sich allein in Frankreich 650 Freiwillige einreihen. Freiwillige wie Regis etwa, ein 42-jähriger Ehemann und Vater, Biologe von Beruf. Der sagt, er habe zwar noch nie geschossen, sei eher unpolitisch, unterstütze Präsident Macron. Was ihn antreibe, sei aber die Frage: „Wenn wir Ländern erlauben andere anzugreifen, welche Welt hinterlassen wir dann unseren Kindern? Wenn wir Putin nicht aufhalten, wo und wann wird er dann zum Stehen kommen?“ Ein anderer Freiwilliger, der 23-jährige Thibault, der sich schon bei den Gelbwesten engagiert hat, stellt die Frage: „Wer ist als Nächster dran? Moldawien? Polen? Alle faseln über Europa, aber wenn ein Krieg ausbricht, dann ist plötzlich niemand mehr da. Man muss etwas tun.“ Oder Frédéric. Er ist zwar schon über 50. Aber auch er möchte in der Ukraine für Freiheit und Demokratie kämpfen.
Indessen sei eine Gruppe von acht ehemaligen französischen Soldaten bereits mit dem Auto in die Ukraine gefahren. Einer von ihnen, Philippe, sagt: „Man kann es nicht zulassen, dass eine ganze Nation im Bombenhagel eines Monsters umkommt. Ich kann das Geschwafel der europäischen Politiker nicht mehr hören. Wir retten Zivilisten. Das ist unsere Pflicht als ehemalige Soldaten und als Europäer.“ Solche Sätze spielen auf der unterbewussten Klaviatur der nationalen Gefühle der Polen. Deren Nationalhymne setzt bekanntlich einem Mann (dem General Jan Henryk Dąbrowski) ein Denkmal, der sich mit seiner polnischen Legion den Weg zur Befreiung der Heimat mit dem Säbel freikämpft.
Jarosław Myjak: „Wolodymyr Selenskyj – ein Held unserer Zeit“
Selenskyj spielt sich aber auch noch mit anderen Tönen in Herzen und Seelen vieler Polen. Ein Satz voller Emotion wie der Selenskyjs an die Russen „Ihr könnt vielleicht unsere Kirchen zerstören, aber unseren Glauben an die Ukraine und Gott nicht“ trifft meisterhaft den Sinn, den viele Polen haben für die spannende Inszenierung des manichäischen Dramas, das sich in der Ukraine dieser Tage wirklich ereignet.
Selenskyjs Fernsehansprache am 25. Februar bildete den Auftakt zur Inszenierung dieses Heldenepos: „Unser Feind wird in der Nacht alle seine Kräfte gegen uns aufbieten. Abscheulich, grausam und unmenschlich; wir müssen verstehen, was uns erwartet. Ich wende mich an alle Einheiten der ukrainischen Armee: Gebt nicht auf. Haltet durch. Wir haben nur Euch.“ Und der Satz an die führenden Politiker der EU in einer Videokonferenz: „Es könnte vielleicht das letzte Mal sein, dass Sie mich lebend sehen“ deutet seine Bereitschaft an, auch die äußerste Konsequenz seines Handelns auf sich zu nehmen, nachdem er offenbar das Angebot der Amerikaner abgelehnt hat, sich aus der Ukraine herausholen zu lassen.
Myjak, sichtlich bewegt, erschüttert, begeistert, schreibt: „Sein Beispiel (Selenskyjs) gibt den Ukrainern die Kraft zum Durchhalten, den Kämpfenden verleiht es Heldenmut. Putin findet in ihm nicht einen Hauch von Schwäche. Er weiß schon jetzt: Wenn der Präsident der Ukraine stirbt, wird er zum Märtyrer. Wenn er überlebt, wird er ein Held sein.“ Und schon ist Myjak bei einer Analogie zur polnischen Geschichte angelangt. Auch der Kampf der Russen am Ende des 2. Weltkrieges gegen die Armia Krajowa (die polnische Untergrundarmee) habe denselben propagandistischen Vorwand benutzt, den heute Putin verwendet: Entnazifizierung und Demilitarisierung.
Und Myjak beendet seinen Beitrag mit einer finsteren Anspielung. Kiew habe schon in seiner frühen Geschichte Kriegstragödien erlebt. So den Einfall des Mongolenherrschers Batu Khan im Jahre 1240. Damals sei Kiew zerstört und seine Einwohner massakriert worden. Danach sei ein neues Kiew mit neuen Einwohnern erstanden. Kiew habe sich immer zu helfen gewusst. Der Versuchung, den auch heute möglichen Untergang der Ukrainer nach dem Muster der polnischen Aufstandstradition zu romantisieren, entkommt der Autor gerade noch ganz knapp mit seinem Appell: „Ukraine, ergib Dich nicht dem Angreifer!“